410. Volksmusikforschung und Ethnomusikologie

60 Jahre Volksmusikforschung in Wien: Im Oktober 2025 feiert das Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie der Universität für Musik und Darstellende Kunst feiert 60 Jahre Forschung, künstlerische Praxis, Lehre und gesellschaftspolitisches Engagement. Die Beschäftigung mit der Bedeutung von Volksmusik hat es auch schon vorher gegeben, als Institut war es ab 1965 möglich, Teil einer internationalen Forschungslandschaft zu werden, die sich mit den musikalischen Traditionen von Menschen, die gemeinsam Musik abseits der Konzertsäle machen, beschäftigt. Neben der Musik selbst ist immer auch das Soziale bedeutsam: wie leben Menschen in Minderheiten, in Mehrheiten, in Fluchtumständen miteinander, und wie wirkt sich das auf ihre Musik aus. Ein Gespräch mit Institutsleiter Marko Kölbl. (Lothar Bodingbauer)

409. Bioschauplatz Wald

409. Bioschauplatz Wald

Waldökologie: Fast die Hälfte Österreichs ist von Wald bedeckt – nicht unbedingt, weil das immer schon so geplant war, sondern weil große Teile des Waldes in schwer zugänglichem Gelände liegen und nicht aktiv genutzt werden können. Große Teile der Waldfläche gelten auch als Schutzwald. Wer sich mit Waldökologie beschäftigt, versucht, die Lebensräume und ihre Umweltfaktoren zu verstehen und sie mit den Lebewesen des Waldes in Verbindung zu bringen. Wir sprechen von „Ökosystemleistungen“, wenn es darum geht, den Wert des Waldes für eine Gesellschaft zu quantifizieren. Der Wald weckt auch Emotionen. Lothar Bodingbauer spricht mit Mario Pesendorfer, der am Institut für Waldökologie der Universität für Bodenkultur in Wien zu Semesterbeginn – nach langer Zeit der Forschungsarbeiten in den USA – in Österreich als neu berufener Professor seine Antrittsvorlesung gehalten hat.

407. Der Zauber flachen Glases

407. Der Zauber flachen Glases

Fensterglas ist echt das schrägste Material. Licht soll durch, der Rest (Staub, Lärm, Wärme) nicht. Das Bild soll nicht verzerrt werden, wenn man hinaus- oder hineinschaut. Die Farben sollen gleich bleiben. Und sicher soll es sein. Die Römer haben die ersten Fenstergläser hergestellt, in europäischen Klöstern wurden für Kirchenfenster flache Stellen aus Glasblasen verwendet, im 17. Jahrhundert wurden in Venedig und später in England das “Crown-Glass-Verfahren” und das “Cylinder-Glass-Verfahren” entwickelt, ab dem 19. Jahrhundert wurde weltweit gewalzt. Bis hierher waren die Gläser oft uneben und trüb. 1959 wurde in den USA (Pilkington, UK) das Floatglasverfahren erfunden, das modernes, klares Fensterglas ermöglicht. Die Eigenschaften sind exakt gestaltbar: Wärmeleitfähigkeit, Schalldämmung, Lichttransmission, Elastizität, Biegezugfestigkeit, Splitterverhalten – und Größe. (Lothar Bodingbauer)

406. Der Wassernobelpreis

406. Der Wassernobelpreis

Ein Gespräch mit Günter Blöschl vom Institut für Wasserbau und Ingenieurhydrologie der TU Wien

Die Schwedische Akademie der Wissenschaften vergibt nicht nur die Nobelpreise für Medizin, Physik, Chemie und Wirtschaft, sondern auch den “Stockholm Water Prize”. Heuer ging er an den Österreicher Günter Blöschl von der TU Wien. Im “Open Space” der Dimensionen am Donnerstag spricht Blöschl über seine frühe Faszination für das Wasser, die Wiener Schule der Hydrologie und den Hochwasserschutz, der in Zeiten des Klimawandels immer wichtiger wird.

Link zur Sendung: https://oe1.orf.at/programm/20250904#806733/Der-Wassernobelpreistraeger (ORF Österreich 1, Dimensionen, 04.09.2025)

405. Römische Pferde im Norden der Alpen

Die Eroberung von Gebieten nördlich der Alpen durch das antike Rom wurde maßgeblich von Pferden und Maultieren geprägt, die die Römer selbst mitgebracht haben. Lokale keltische Rassen waren zu klein, um für Militär und Transport nützlich zu sein. Das hat eine internationale Forschungsgruppe um Elmira Mohandesan vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung der Veterinärmedizinischen Universität Wien herausgefunden. Die Studie basiert auf einer genetischen Spurensuche in rund 400 archäologischen Funden. Sie zeigt, wie sehr das Leben der Menschen dieser Gegend von Pferden und Maultieren – von Equiden – geprägt wurde. Ein Beitrag von Lothar Bodingbauer.

Interviewpartnerin: Elmira Mohandesan, Universität Wien

Sendung: ORF Radio Österreich 1, Dimensionen

401. Die Schlögener Schlinge

401. Die Schlögener Schlinge

Wissenschaft im Fluss

Die Donau macht in Oberösterreich, auf halbem Weg zwischen Linz und Passau, bei Schlögen auf fünf Kilometern zwei 180°-Kehren. Diese sogenannte „Schlögener Schlinge“ ist entstanden, als die Donau das harte Gestein der Böhmischen Masse nicht durchschneiden konnte. Wissenschaftlich ist diese Besonderheit des Donautals mit seinen umgebenden, 250 m hohen Hängen für viele Disziplinen ein spannender Bereich. In der Kurve entstehen typische Strömungsphänomene im Flusswasser: Erosions- und Sedimentationszonen, spiralförmige Sekundärströmungen, das Wasser wird an der Außenseite beschleunigt und an der Innenseite gebremst. Die Schlögener Schlinge ist ein schönes Beispiel für Flussdynamik, Talbildung, Geologie und Landschaftsformung. Flora und Fauna sind vielfältig. Es ist ein Gebiet hoher Biodiversität, die auch mit Citizen-Science-Projekten untersucht wird. (Lothar Bodingbauer)

Voraussichtlicher Sendetermin: September 2025

(more…)

086. Quantensprung or Quantum jump?

Die Sprache der Wissenschaft: Ob Fruchtliegenforscher, Atomphysiker, Verfahrenschemiker oder Wissenschaftler der internationalen Henrik-Ibsen-Community: sie alle verwenden Englisch als Forschungs- und Verkehrssprache. Latein hat seine zentrale Stellung im Wissenschaftsbetrieb natürlich längst verloren, nur noch neu entdeckte Pflanzen müssen lateinisch beschrieben werden. Mit zunehmender Bedeutung länderübergreifender Forscherteams verlieren aber auch die gegenwärtigen Landessprachen immer mehr an Stellenwert. Sogar ganze Forschungsgebiete werden an nationalen Universitäten nicht mehr in den jeweiligen Landessprachen diskutiert und bearbeitet, sondern auf Englisch, in einer Qualität, die trotz langjährigen Englischlernens an Schulen nicht an das Sprachniveau der Muttersprache heranreicht. Internationale Studiengänge und nationale Tagungen, die ausschließlich auf Englisch angeboten werden, tun ihr übriges, um “BSE” (Bad Simple English), wie Kritiker das oft niedrige Sprachniveau bezeichnen, verstärkt zu etablieren. Eine Sendung zur Frage der Vielsprachigkeit der Wissenschaft.

Filename: radio086_dim_wissenschaftssprache

Manuskript (ohne letzte Änderungen)

DIMENSIONEN, Donnerstag, 16. Oktober

Quantensprung or Quantum jump?

Eine Sendung über die Folgen der Einsprachigkeit in der Wissenschaft von Lothar Bodingbauer

Ob Fruchtliegenforscher, Atomphysiker, Verfahrenschemiker oder Wissenschaftler der internationalen Henrik-Ibsen-Community: sie alle verwenden Englisch als For- schungs- und Verkehrssprache. Latein hat seine zentrale Stellung im Wissen- schaftsbetrieb natürlich längst verloren – nur noch neu entdeckte Pflanzen müssen lateinisch beschrieben werden. Mit zunehmender Bedeutung länderübergreifender Forscherteams verlieren aber auch die gegenwärtigen Landessprachen immer mehr an Stellenwert. Sogar ganze Forschungsgebiete werden an nationalen Uni- versitäten nicht mehr in den jeweiligen Landessprachen diskutiert und bearbeitet, sondern auf Englisch – in einer Qualität, die trotz langjährigen Englischlernens an Schulen nicht an das Sprachniveau der Muttersprache heranreicht. Internationale Studiengänge und nationale Tagungen, die ausschließlich auf Englisch angeboten werden, tun ihr übriges, um “BSE” (Bad Simple English), wie Kritiker das oft niedri- ge Sprachniveau bezeichnen, verstärkt zu etablieren. Eine Sendung zur Frage der Vielsprachigkeit der Wissenschaft.

MANUSKRIPT

OT 1 / 00:50 / Mix unterschiedlicher Wissenschaftler

Mein Name ist Hans Pechar, Hochschulforscher. Ein großer Teil der Teil der Literatur, die ich lese, vermutlich mittlerweile etwa 4/5 ist englische Literatur. Meine eigene Publikations- tätigkeit 3/4 Deutsch, 1/4 Englisch.

OK [englisch ausgesprochen] – Mein Name ist Miria Kutzter, ich arbeite am Institut für dogmatische Theologie an der Universität Wien. Also es war lange Zeit so, da musste man Deutsch können, um Theologie studieren zu könne, das ist etwas, was sich deutlich geän- dert hat, die Diskurse rutschen jetzt auch ins Englisch hinüber …

Ich heiße Franz Pöchhacker, Dolmetschwissenschaftler. Meine wissenschaftliche Arbeit verläuft auf Englisch.

Hans Lohninger, Chemiker, und meine Forschungssprache ist Englisch.

Sprecherin

Quantensprung – oder vielleicht ist besser: Quantum jump?

1

OT 2 / 00:22 / Oberhummer auf Englisch

Hello, my name is Heinz Oberhummer. I come from Vienna University of Technology. I am a physicist, but besides this I am also engaged in presening popular science through books through cabaret, in order to tell the people, how interesting science is …

Sprecherin

Eine Sendung zur Frage der Einsprachigkeit der Wissenschaft von Lothar Boding- bauer.

OT 3 / 00:48 / Oberhummer

Manchmal denke ich auf Englisch, und manchmal muss ich sogar wenn ich Deutsch spre- che krampfhaft nach dem wissenschaftlichen Wortsuchen, wie das in der wissenschaftli- chen Sprache heißt. Ich kenne zum Beispiel Physik in CERN, die stammen aus Öster- reich, die können sich eigentlich wissenschaftlich nicht mehr in Deutsch ausdrücken. Die können nur mehr Englisch reden. Englisch ist ja eine einfache Sprache in dem Sinn, die Sätze sind kürzer, es ist prägnant, eigentlich wesentlich die geeigneter Sprache für Natur- wissenschaft als zum Beispiel Deutsch, die Deutsche Sprache sind Schachtelsätze, die sind wesentlich komplizierter. Aber auch beim Publizieren ist es so, dass es wesent- lich einfacher ist vom Stil her im Englischen zu publizieren, weil die Sätze kürzer sind und dies wissenschaftlichen Erkenntnisse leichter vermitteln kann.

Ganz ohne Zweifel: Englisch ist zur Lingua Franca geworden, zur Verkehrssprache zwischen Sprechern verschiedener Sprachgemeinschaften. Auch in den Wissen- schaften. Es begann mit der Auswanderung und Vertreibung deutschsprachiger Wissenschaftler vor und während des 2. Weltkriegs und gerade der Boom elektro- nischer Kommunikationsmittel hat Englisch als leicht erlernbare Austauschsprache in seiner Bedeutung gefestigt. Bevor allerdings ein etwaiges Verschwinden von Deutsch als Wissenschaftssprache bemerkt und auch bedauert wird, ist es wichtig, die Funktionen einer Wissenschaftssprache im Universitätsgeschehen klar darzu- stellen. Drei wesentliche Punkte sind zu erkennen, sagt der Hochschulforscher Hans Pechar:

OT 4 / 1:10 Pechar

Das eine ist die Publikation von Forschungsergebnissen. Da hat sich das Englische am stärksten durchgesetzt und so wie jetzt ausschaut, auf lange Sicht wird sich daran nichts ändern. Das zweite ist bei Kommunikation auf Konferenzen, der Austausch von Forsche- rinnen. Und der Dritte wichtige Bereich ist, in welcher Sprache wird gelehrt. Hier aus einer Modetorheit heraus den muttersprachlichen Unterricht durch schlecht gesprochenes Eng-

2

lisch zu ersetzten macht ja wirklich keinen Sinn, aber wenn Universitäten sich entschlie- ßen, internationale Studenten zu rekrutieren, dann müssen sie in der Regel auf Englisch umstellen.

Internationale Studierende bringen in der Regel den heimischen Universitäten mehr Geld, als sie kosten. Die Wahl der Sprache der Lehre wird somit – neben der welt- weiten Sichtbarkeit der Aktivitäten – auch zu einer Marketingentscheidung.
Doch zunächst zu einem grundsätzlichen Aspekt der Sprache, den der Überset- zungs- bzw. Translationswissenschaftler Gerhard Budin anspricht: die Rolle der Sprache im Erwerb von Wissen.

OT 5 / 00:41 Budin

Es ist einerseits einmal ein Ausdruck der Sprachökonomie. Das heißt, die menschliche Kognition funktioniert so, dass man für die Dinge, die man immer wieder braucht, oder die einen interessieren, dass man die mit Namen belegt, um auf sie mit referieren zu können. Denn wen ich jedes Mal sagen müsste, das ist ein längliches Instrument mit Haare drauf und da kann man reinsprechen, dann wäre das unökonomisch, wenn ich das immer sagen müsste. Wenn ich aber sage, das ist ein Mikrofon mit einem Windschutz, dann kann ich mich ökonomischer ausdrücken. Und dieses Grundprinzip wird in den Wissenschaftsspra- chen weiterentwickelt, aber für den Spracherwerb ist das ganz wesentlich.

Es ist aber nicht nur die Rolle des Hinweisens und Benennens, den die Sprache hier erfüllt. Sprache selbst schafft Wirklichkeit. Dies zeigt sich am besten bei der legistischen Wirklichkeit – ein Rechtssystem das erst entstehen kann, weil es Spra- che, weil es Terminologie gibt. Es ist demnach nicht egal, in welcher Sprache der Wissenserwerb stattfindet. Grundvoraussetzung für jede Wissenschaftssprache ist eine klar und differenziert entwickelte Terminologie. Die Dogmatikerin Mirja Kutzer bringt ein Beispiel aus dem Bereich der Theologie, sie beschäftigt sich mit „dem Bösen“.

OT 6 / 00:32 Kutzer

Ja, also allein schon der Ausdruck, den man benutzt, um das Böse zu beschreiben ent- scheidet letztendlich über die Phänomene, die ich darunter zu verrechnen versuche. Im Englischen haben wir „the evil“. „The evil“ würden wir im Deutschen übersetzen mit „der Böse“, oder „das Böse“ oder „die Böse“. Wir unterscheiden zwischen „dem Bösen“ als ei- ner wie immer zu fassenden Entität oder auch zwischen einer Person, die wir als personi- fiziertes Böses oder wie auch immer bezeichnen wollen.

Im Englischen fällt es leichter, einen Menschen wie Saddam Hussein als „das Bö- se“ zu bezeichnen. Diese Schwelle ist im Deutschen höher, weil es durch die Denk- konzepte, die sich hier durch das Deutsche ausdrücken, mehr Wahlmöglichkeiten

3

gibt. Am besten eignet sich aber das Französische, um über das Böse nachzuden- ken, sagt Mirja Kutzer, und das eigentlich aus einem Mangel heraus.

OT 7 / 1:07 / Kutzer

Das klassische lateinische Wort für „das Böse“ wäre das „Malum“, im Lateinischen wird dann unterschieden zwischen malum morale, das Böse, das das moralische Verhalten des Menschen betrifft, und dem malum physicum, alles was wir unter dem Naturbösen subsu- mieren. Im Deutschen hätten wir hier die Möglichkeit zwischen dem Bösen und dem Übel, eine Unterscheidung die im Französischen so aber nicht funktioniert, denn da wird beides subsumiert unter „le mal“. Das heißt aber auch, dass sich unsere französischen Kollegen oder in der französischen Philosophie dieser Zusammenhang zwischen dem Naturbösen und dem Bösen im moralischen Handeln. als Problem viel unmittelbarer stellt als uns, denn wenn wir über das Böse nachdenken, müssen wir noch nicht zwangsläufig oder über das Naturböse, also das Übel nachdenken. Während gerade die Spekulationen wie wir sie bei Paul Ricoeur finden, gerade diese Verbindung versuchen zu suchen, wo liegt sie denn diese Verbindung zwischen dem Bösen und dem Naturbösen.

Viele Begriffe sind an eine bestimmte Wissenschaftssprache gebunden, und manchmal nimmt auch ein deutsches Wort den Umweg über das Englische wieder zurück ins Deutsche, zum Beispiel der Begriff „Einfühlung“, erzählt der Grazer Germanist Robert Velussig.

OT 8 / 00:38 / Velussig

Der Begriff „Einfühlung“ aus der deutschen Philosophie um 1900, das ist diskreditiert wor- den und über den Begriff der „Empathie“ wieder reimportiert. Das ist gewisserweise die Scheu einen Begriff zu verwenden, den Leuten verwende haben, mit denen man theore- tisch nichts mehr zu tun haben möchte. Insofern kann der Export und Reimport von sol- chen Begriffen dazu dienen, dass einem die Scheu von seinem solchen Phänomen wieder genommen wird, und besonders dieser Begriff Einfühlung ist etwas, was in der Literatur- wissenschaft der letzten Jahre besonders diskutiert worden ist.

Die notwendigen Übersetzungvorgänge beim Austausch des Wissens in unter- schiedliche Sprachen sieht der Translationswissenschafter Gerhard Budin nicht unbedingt negativ.

OT 9 / 01:45 / Budin

Meiner eigenen Erfahrungen nach ist diese Zweisprachigkeit Deutsch Englisch etwas posi- tives, weil man durch diesen internen Übersetzungsprozess ja eigentlich immer kreative Moment hat, und etwas weiterdenkt. Zum Beispiel wenn ich Unterrichtsmaterialien, ich

4

habe das meistens auf Deutsch und auf Englisch, einmal unterrichte ich irgendwo international, aber auch dann hier auf der Universität und ich brauche dann zum selben Thema Unterrichtsmaterialen in zwei Sprachen, jedesmal wenn ich die Mate- rialien Aktualisierung, bei dieser Gelegenheit denke ich darüber nach, verbessere oder ergänze ich etwas, und. Natürlich gibt es auch Unterschiede in den Argumentati- onsstrategien in den verschiedenen Sprachen. Im englischsprachigen eher geradlinig, we- nig Degression, wenig Abweichungen, im Deutschen traditionellerweise eher komplex, mehrere Argumentationsstränge, die einander manchmal überschneiden, was für den Zu- hörer oder Leser nicht einfach ist oft, zu folgen, dann gibt es auch verschiedene weitere, wie arabische oder chinesische Argumentationslogiken. Andererseits durch diese Interna- tionalisierung der Wissenschaften konvergiert diese Denkweisen immer mehr, denn die Wissenschaftslogik doch wieder etwas mehr oder weniges sprachunabhängiges. Aber auch da wieder in den Naturwissenschaften wesentlich mehr sprachunabhängig, weil die Wissenschaftslogik auf einer allgemeinen Logik beruht, währen die hermeneutische Tradi- tionen, mit Verstehensprozessen und stark kulturspezifischen Ansätzen die Kulturspezifik dann doch eine Sprachspezifik ist

Mit einem Verschwinden des Deutschen aus dem Wissenschaftsbetrieb würde also tatsächlich Wissen verloren gehen, zumindest im nicht-naturwissenschaftlichen Bereich. Der Musikwissenschaftler Richard Parncutt aus Graz geht an der Schnitt- stelle Geistes- und Naturwissenschaft – selbst mehrsprachig – mit seinen Studie- renden einen konsequent zweisprachigen Weg. Er ermuntert seine Studierenden, die Zweisprachigkeit nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern gezielt zu entwickeln, und wählt selbst aus dem Fundus der Sprache jene aus, die am besten zu seinen Anforderungen passt. Richard Parncutt erzählt von einem Tag der Geisteswissen- schaften an der Uni Graz, für den sein Institut gebeten wurde, ein gutes Zitat aus der Musikwissenschaften auszuwählen, eines das das Forschungsthema „Musik“ am treffendsten beschreibt.

OT 10 / 01:34 / Parncutt

Wir haben uns entschieden, dass unser Zitat auf Englisch sein wird. Ich meine, ich fand das eigentlich nicht gut, aber in jedem Fall ist ein sehr interessantes Zitat: „Music doesnʻt just happen. It is what we make it and what we make of it“. Nun, wenn man versucht, das zu übersetzen, dann findet man, dass eigentlich die englischsprachigen Menschen viel- leicht nicht klar sind, was es bedeutet. Wenn man sagt: „Music is what we make it“, das heißt Musik hat einen gewissen Stellenwert und es hängt von unserer Einstellung wie gut oder wichtig Musik ist, das kann man aber nur relativ ausführlich erklären. Und dann kommt er nächste Satz „und what we make of it“. Und das heißt, wenn wir aktiv versuchen Musik zu fördern und Musik zu interpretieren oder eine Konstruktion von einer Musikwis- senschaft, Musikwissenschaft zu konstruieren, dann kriegen wir eine neue Version von Musik. Und das kann man auch ausführlich erklären, aber in dem englischen Satz ist es sehr knapp. Und dann entsteht die Frage sollte man das übersetzen wollen, soll man ei- nen Satz schreiben, der zwei mal so lange ist, oder drei mal so lang, und man wird natür- lich nie auf die gleiche Bedeutung kommen, weil die gleiche Bedeutung nicht definiert ist. Das hat man auch innerhalb der deutschen Sprache oder englischen Sprache, dass man nicht immer sagen kann, was man sagen will, das ist nämlich ein Thema in der Musikwis-

5

senschaft, dass man bestimmte Erfahrungen in der Musik nicht beschreiben kann, weil die Wörter fehlen. Das nennt man auf Englisch „ineffability“, das man etwas nicht vollständig beschreiben kann.

Ineffability. Das ist in der Musik das Fehlen einer Beschreibung, wo die Worte feh- len. Was in der Musik ganz alltäglich ist, fällt sprachenpolitisch unter den Begriff Domänenverlust. Oft einfach nur aus praktischen Gründen – Zeitsparen, begrenzte Ressourcen, wird nicht nur der Wissensaustausch, sondern die Forschung selbst in Englisch gemacht. Das kann dazu führen, dass diese Themen dann nicht mehr in der jeweiligen Landessprache diskutieren werden können. In Schweden ist das nicht wie in Österreich vor allem bei naturwissenschaftlichen, sondern auch in den geisteswissenschaftlichen Fächern der Fall, erzählt die schwedische Translations- wissenschafterin Elizabeth Tiselius.

OT 11 / 00:31 7 Tiselius / Übersetzung

In Schweden haben wir das Problem, dass mehr und mehr Forschung ausschließ- lich auf Englisch gemacht wird. Das schafft einen Verlust, einen Domänenverlust. Wir verlieren dabei die gesamte Terminologie in der schwedischen Sprache und haben damit nicht mehr die Möglichkeit diese Forschungsfelder auf Schwedisch, in unserer Muttersprache zu diskutieren.

Elisabeth Tiselius wünscht sich, dass Schwedisch wenigstens Englisch gleich ge- stellt wird, damit ihr Universitätsinstitut auch die rechtliche Grundlage hat, schriftli- che Arbeiten sowohl in Englisch, als auch in Schwedisch zu verfassen. Das ist aber noch nicht der Fall. In der praktischen Arbeit muss sie einen Weg finden, die feh- lende Terminologie in den schwedischen Text einzubetten.

OT 12 / 00:41 / Tiselius / Übersetzung

Ich kann Ihnen da ein Beispiel aus der Zweisprachigkeitsforschung geben. Hier geht es um input und output. Input ist das was wir Menschen hören, und output was wir sprechen. Aber wie soll ich das auf Schwedisch nennen? Inströmung und Aus- strömung vielleicht, oder Zuhörung und Produktion? Oder soll ich input und output unter Anführungszeichen setzen? Das ist eine schwierige Frage, und wir müssen uns viel mehr bemühen, eine schwedische Terminologie nicht nur zu erhalten, son- dern auch aufzubauen.

OT 13 / 01:21 / Tiselius / Übersetzung

Man kann ja auch nur in seiner Muttersprache wirklich philosophisch sein, nur in seiner Muttersprache kann man wirklich große und schwierige Fragen diskutieren. Die schwedischen Forscher sollen ruhig international auf englisch wetteifern und

6

sich austauschen, aber sie sollen auch den selben Eifer aufwenden, die schwedi- sche Terminologie zu verwenden und zu entwickeln – man kann ja nicht sagen, ach ich habe ja all meine Forschung auf Englisch gemacht, und deswegen werde ich nur Englisch verwenden. – Ich will ja nicht nur mit Leuten im Ausland über meine Forschung reden, sondern auch mit meinen Schülern, oder mit jemandem, den ich zufällig auf der Straße treffen, und erkläre, was ich beruflich mache. Und das kann man nicht machen, wenn man komische Begriffe wie input und output verwendet, oder vielleicht noch schlimmere Begriffe… [lacht].

OT 14 / 00:18 De Cilia

Ich denke, dass Englisch zentrale Rolle hat in der internationalen Kommunikation als Ver- kehrssprache, als Publikationssprache, es ist wichtig, den Studierenden und lehrenden Forschern dementsprechend gute Kompetenzen zur Verfügung zu stellen, …

Der Sprachwissenschaftler Rudolf De Zilliar, Universität Wien. OT 15 / 00:32 De Cilia

… darüber sollte man nicht diskutieren müssen, das ist klar, aber trotzdem ist es wichtig, Nationalsprachen, die ja hochentwickelt sind, deren Entwicklung Jahrhunderte lang ge- dauert hat, die in der deutschen Aufklärung begonnen als funktionsfähige Wissenschafts- sprache, praktiziert und gefördert worden. Eine Politik der Mehrsprachigkeit halte ich für wichtig und nicht die der Einsprachigkeit.

Es ist meist nicht bloß der Wille, der eine nationale Sprache weg vom Wissen- schaftsbetrieb driften lässt. Die Pflege der nationalsprachlichen Terminologie braucht vor allem Zeit und Geld, und natürlich einen sprachenpolitischen Rahmen. In Österreich ist die Wahl der Sprache den Universitäten selbst überlassen. Die Kosten der Mehrsprachigkeit werden dabei oft als Belastung gesehen, und de facto bleiben auf den Internetseiten der Institute Englisch oder Deutsch – die eine oder andere Sprache oft unberücksichtigt. Die Sprache als notwendiges Übel?

OT 16 / 01:13 / De Cillia

Das ist das Argument das häufig gebracht wird, das ökonomistische Argument, die Kosten der Mehrsprachigkeit. Es gibt Leute, die drehen das um: die sagen, die Kosten der Ein- sprachigkeit , die Einsprachigkeit ist teurer. Die Einsprachigkeit hat wenn man so will dann soziale Kosten. Kosten sind ja nicht nur ökonomische Kosten. Wenn man generell gese- hen einsprachige Politik macht, riskiert man soziale Konflikte. Roland Bart sagte, einem Menschen seine Sprache nehmen, alle legalen Morde beginnen da, und natürlich wehren sich die Menschen, dass man Sprache nimmt. —- Das könnten sozialen Kosten im Wissenschaftsbereich sein. Die Entwicklung der Wissenschaftssprachen im Mittel- alter hat zu Beginn der Neuzeit, 16. Jahrhundert aufwärts mit der Demotisierung der

7

Wissenschaft, mit der Demokratisierung der zunehmenden Entwicklung der einzel- nen Wissenschaftssprachen dazu geführt, dass das Wissen immer mehr allen Be- völkerungssprachen zur Verfügung gestellt werden konnte. Das Mittelalter war ja letztlich eine dogmatische Form der Wissenschaft, wo die Dogmatik über die Jahr- hunderte fortgeschrieben hat, was richtig und was falsch ist.

Nicht zufällig haben diese neuen Wissenschaftssprachen, die in allen europäischen großen Ländern starteten, das Englische, das Französische, das Spanische, dazu geführt, dass die Wissenschaft demokratisch wurde.

OT 17 / 00:37 / De Cillia

Ein wissenschaftlicher Unitarismus, so schätzen das Kolleginnen und Kollegen ein, wenn man nur in einer Sprache forscht und kommuniziert, auch im deutschsprachigen Raum nur noch auf Englisch kommuniziert, was in bestimmten Bereichen jetzt schon der Fall ist, dass man wieder zu einer Entdemokratisierung der Wissenschaft kommt, dass zum Bei- spiel die Medizin immer weniger in der Lage ist, auch der breiten Bevölkerung zu kommu- nizieren, was da passiert, was die Forschungsergebnisse sind, wie Therapien durchzufüh- ren sind oder durchgeführt werden.

Der FWF, der Wissenschaftsfond ist Österreichs größter Geldgeber für For- schungsprojekte. Der Fonds bemüht sich in seinen Eingabeformularen ausdrück- lich um Zweisprachigkeit – die Projektbeschreibungen selbst sind allerdings nur noch auf Englisch einzureichen – auch in den Geisteswissenschaften. Die Antrags- sprache Englisch ist eine autonome Entscheidung des FWF und hat vor allem den Grund, dass Gutachten über die Förderungswürdigkeit der Projekte ausschließlich im Ausland eingeholt werden. Hier werden gewinnen zunehmend auch die sprach- lich weiter entfernten EU Länder und Asien von Bedeutung. Einzig für Germanisten gibt es Ausnahmen erzählt die germanistische Mittelalterforscherin Karin Kranich.

OT 18 / 00:28 / Kranich

Es gibt aber auch Kooperationen, wo auch technische Fächer mit geisteswissen- schaftlichen Fächern kooperieren, es gibt Programme, die grundsätzlich überhaupt Englisch strukturiert sind, dort ist es schon so, dass man zum Projektantrag eine englische Version dazugeben muss, manchmal auch englischsprachiges Hearing gemacht wird. Dazu müssen wir uns in irgendeiner Form aufraffen.

Die englischsprachige Weiterbildung erfolgt dabei im eigenen Interesse, sagt Karin Kranich.

OT 19 / 00:29 / Kranich

8

Da muss man sagen, es gibt an den österreichischen Unis, in Graz ist das ziemlich gut ausgebildet, ein hausinternes Weiterbildungsprogramm, da gibt es einen Kurs der Standard ist, den besucht man immer wieder. Da gibt es einen Kurs, der Stan- dard ist, English for Academic Purposes, den besucht man immer wieder oder auch English conversation in Academical teaching, oder derartiges, das ist in einem ge- wissen grad auch Selbstschutz, weil man dort Ängste abbaut, nicht kommunizieren zu können.

Was ist der Unterschied zwischen ‘Sein’ und ‘Dasein’ bei Heidegger? Den Un- terschied zwischen ‘Sein’ und ‘Dasein’ kann man noch relativ leicht auf eng- lisch erklären, bei ‘Sein’ und ‘Seiendes’ wird es dann schwieriger,
recht mit der „Seiendheit des Seins!“. – Der Franz Pöchhacker kennt die Tücken der Übersetzungen, selbst bei einfacheren Themen. Für ihn ist Sprache kein notwendiges Übel, sondern eine Faszination, die sich manchmal besonders erst zeigt, wenn von einer Sprache in die andere übersetzt wird.

OT 20 / 1:20 / Pöchhacker

Von der Motorentechnik bis zu den Kunststoffen bis zu politischen Überlegungen findet man überall Beispiele für schlechtes Englisch, so nach dem Motto der Äußerung die einem deutschen Bundeskanzler einmal zugeschrieben wurde, als er sich kurz fas- sen wollte und auf Englisch referierte und eingangs sagte: Ladies and Gentlemen, let me be short and pregnant. Aber es gibt vor allem durch sehr extreme Akzente im englischen aus neuerer Zeit Beispiele, wo dann auch die Dolmetscher drüberstolpern. Das sind dann Fälle wo die internationale Sprache Englisch für die Wissenschaft zu Verständ- nisschwierigkeiten führt, weil die Kollegen das stark akzentuierte koreanische oder italieni- sche Englisch nicht gut verstehen oder weil auch mitunter die Dolmetscher drüberstolpern können. Der Kollege hat mir vor ein paar Wochen gesagt, dass er den Ausdruck „stud- eyes“ offenbar als etwas mit Augen verbundenes rezipiert hat, und nicht wusste, was er mit diesem stud-eyes tun sollte, bis er dann draufkam, dass das eine sehr schlechte Aus- sprache des englischen Wortes studies war. Da kanns dann sicher beim Dolmetschen zu Reibungsverlusten kommen.

Englisch ist zur Lingua Franca der Wissenschaften geworden. Zur Verkehrs- sprache, deren Niveau, bei denen, die sie verwenden, aber gar nicht an das hohe Sprachniveau von Muttersprachlern heranreichen müsste. „Gutes“ Eng- lisch gibt es aber eigentlich es nicht unter jenen, die Englisch als Verkehrs- sprache benützen – es ist eine Frage der „Angebrachtheit“. Diese unter Ang- listen nicht unumstrittene Sicht vertritt die Anglistin und Lingua Frank For- scherin Barbara Seidlhofer.

OT 21 / 00:25 Seidlhofer Lingua Franka

und erst

9

Dolmetschwissenschaftler

Es ist immer die Frage für welchen Zweck, welche Funktion erfüllt die Sprache, und nicht den Formen nach, gut oder perfekt. Natürlich kann man sagen, Queen English oder Hipp Hopp English sind echt, das sind Sprachformen, die von Native Speakern gesprochen werden. Gleichzeitig wenn ich mit Queens English oder mit Hipp Hopp English auf eine Mathematikerkonferenz sein, werde ich völlig fehl am Platz sein.

Bad Simple English – nennen Spötter die schlechte Qualität der international gesprochenen Englischs nennen – und dieses schlechte English wird trotz jahrelangen Sprachenlernens auch noch mittelmäßig ausgesprochen. Auch sei nicht grundsätzlich ein Problem.

OT 22 / 00:42 / Seidlhofer

Vokale, die etwa in der Perzeption sehr hervorstechen, weil Sie gerade gesagt haben Bad Simple English, wenn das ein Österreicher gesagt hat, sagt er Bad Simple English statt einem offenen A Laut spricht er es mit einem E Laut aus, und statt English sagt er INglish. Das macht abe rin der internationalen Verständigung keine Schwierigkeiten. Aber wenn ich meine Konsonanten nicht aussprchen kann, außer dem TH, und zum Beispiel wenig Unterschied mache zwischen einem pill und bill, dann wäre das eine Unterscheidung, die wichtig wäre, und auch die Apsiration von dem pill.

Für den englischsprachigen Unterricht an Schulen hätte eine Stärkere Berücksich- tigung von Englisch – nicht als Kultursprache, sondern als Lingua Franca – als Aus- tauschsprache – besondere Bedeutung, sagt Barbara Seidlhofer.

OT 23 / 00:42 / Seidlhofer Lingua Franka

Jetzt nicht in dem Sinn, das man schlechtes Englisch unterrichte, sondern dass ich in der beschränkten Unterrichtszeit ich Dinge unterrichte, die für die internationale Kommunikati- on wichtig sind. Das heißt ich werde mich dann nicht stundenlang hinstellen und meinen Schülern sagen, gibt die Zunge zwischen die Zähne und spuck ein bisschen und sag think, und gleichzeitig aber schauen, dass die Längen der Vokale, ob ich sage to be oder the bee sage, dass sie die Konsonanten richtig aussprechen, von denen man weiß, dass sie für die internationale Verständlichkeit wichtig sind.

SPRECHERIN

Sie hörten: Quantensprung – oder vielleicht besser Quantum jump?

OT 24 / 00:57 / De Cillia

10

Die Sprache als Instrument der wissenschaftlichen Aneignung der Realität außer- sprachlichen Realität, die unterschiedlich organisiert ist je nach Einzelsprache, das ist das zentrale Argument all jener die der Meinung sind, eine einzige Wissen- schaftssprache ist ein Verlust. Ich glaube das schon, wenn jemand nicht mehr in der seiner Muttersprache, Erstsprache, oder die Sprache, die man am besten be- herrscht, wenn man nicht mehr darin forschen kann, weil die nicht mehr als Wis- senschaftssprache funktioniert, dann ist man nicht mehr konkurrenzfähig mit de- nen, die das in ihrer Muttersprache tun. Und zwar was die wissenschaftliche Kreati- vität betrifft. Und ich glaube, das wissenschaftlich Forschung in Chemie, Physik, überall, ein eminent kreativer Prozess ist, und nicht einfach eine reine Terminolo- giefrage sozusagen.

SPRECHERIN

Eine Sendung zur Frage der Einsprachigkeit der Wissenschaft von Lothar Boding- bauer.

OT 25 / 00:16 / De Cillia

Man kann Wissenschaftssprache sicher nicht reduzieren auf Nomenklaturen, auf Termino- logien, die man von einer Sprache in die andere ganz einfach übersetzen kann. Dort, wo kreatives Forschen stattfindet, dort spielt die Sprache eine zentrale Rolle.

Sprecherin

Gesprochen haben ____________ und der Gestalter. Morgen in den Dimensionen…

DIE ABSAGE WIRD EIN BISSEL LÄNGER. ICH HABE SIE IM BÜRO. SIE KANN VON NINA STREHLEIN GESPROCHEN WERDEN…

18281 14:00

11


Manuskript (letzte Änderungen nicht vermerkt)

DIMENSIONEN, Donnerstag, 16. Oktober

Quantensprung or Quantum jump?

Eine Sendung über die Folgen der Einsprachigkeit in der Wissenschaft von Lothar Bodingbauer

Ob Fruchtliegenforscher, Atomphysiker, Verfahrenschemiker oder Wissenschaftler der internationalen Henrik-Ibsen-Community: sie alle verwenden Englisch als For- schungs- und Verkehrssprache. Latein hat seine zentrale Stellung im Wissen- schaftsbetrieb natürlich längst verloren – nur noch neu entdeckte Pflanzen müssen lateinisch beschrieben werden. Mit zunehmender Bedeutung länderübergreifender Forscherteams verlieren aber auch die gegenwärtigen Landessprachen immer mehr an Stellenwert. Sogar ganze Forschungsgebiete werden an nationalen Uni- versitäten nicht mehr in den jeweiligen Landessprachen diskutiert und bearbeitet, sondern auf Englisch – in einer Qualität, die trotz langjährigen Englischlernens an Schulen nicht an das Sprachniveau der Muttersprache heranreicht. Internationale Studiengänge und nationale Tagungen, die ausschließlich auf Englisch angeboten werden, tun ihr übriges, um “BSE” (Bad Simple English), wie Kritiker das oft niedri- ge Sprachniveau bezeichnen, verstärkt zu etablieren. Eine Sendung zur Frage der Vielsprachigkeit der Wissenschaft.

MANUSKRIPT

OT 1 / 00:50 / Mix unterschiedlicher Wissenschaftler

Mein Name ist Hans Pechar, Hochschulforscher. Ein großer Teil der Teil der Literatur, die ich lese, vermutlich mittlerweile etwa 4/5 ist englische Literatur. Meine eigene Publikations- tätigkeit 3/4 Deutsch, 1/4 Englisch.

OK [englisch ausgesprochen] – Mein Name ist Miria Kutzter, ich arbeite am Institut für dogmatische Theologie an der Universität Wien. Also es war lange Zeit so, da musste man Deutsch können, um Theologie studieren zu könne, das ist etwas, was sich deutlich geän- dert hat, die Diskurse rutschen jetzt auch ins Englisch hinüber …

Ich heiße Franz Pöchhacker, Dolmetschwissenschaftler. Meine wissenschaftliche Arbeit verläuft auf Englisch.

Hans Lohninger, Chemiker, und meine Forschungssprache ist Englisch.

Sprecherin

Quantensprung – oder vielleicht ist besser: Quantum jump?

1

OT 2 / 00:22 / Oberhummer auf Englisch

Hello, my name is Heinz Oberhummer. I come from Vienna University of Technology. I am a physicist, but besides this I am also engaged in presening popular science through books through cabaret, in order to tell the people, how interesting science is …

Sprecherin

Eine Sendung zur Frage der Einsprachigkeit der Wissenschaft von Lothar Boding- bauer.

OT 3 / 00:48 / Oberhummer

Manchmal denke ich auf Englisch, und manchmal muss ich sogar wenn ich Deutsch spre- che krampfhaft nach dem wissenschaftlichen Wortsuchen, wie das in der wissenschaftli- chen Sprache heißt. Ich kenne zum Beispiel Physik in CERN, die stammen aus Öster- reich, die können sich eigentlich wissenschaftlich nicht mehr in Deutsch ausdrücken. Die können nur mehr Englisch reden. Englisch ist ja eine einfache Sprache in dem Sinn, die Sätze sind kürzer, es ist prägnant, eigentlich wesentlich die geeigneter Sprache für Natur- wissenschaft als zum Beispiel Deutsch, die Deutsche Sprache sind Schachtelsätze, die sind wesentlich komplizierter. Aber auch beim Publizieren ist es so, dass es wesent- lich einfacher ist vom Stil her im Englischen zu publizieren, weil die Sätze kürzer sind und dies wissenschaftlichen Erkenntnisse leichter vermitteln kann.

Ganz ohne Zweifel: Englisch ist zur Lingua Franca geworden, zur Verkehrssprache zwischen Sprechern verschiedener Sprachgemeinschaften. Auch in den Wissen- schaften. Es begann mit der Auswanderung und Vertreibung deutschsprachiger Wissenschaftler vor und während des 2. Weltkriegs und gerade der Boom elektro- nischer Kommunikationsmittel hat Englisch als leicht erlernbare Austauschsprache in seiner Bedeutung gefestigt. Bevor allerdings ein etwaiges Verschwinden von Deutsch als Wissenschaftssprache bemerkt und auch bedauert wird, ist es wichtig, die Funktionen einer Wissenschaftssprache im Universitätsgeschehen klar darzu- stellen. Drei wesentliche Punkte sind zu erkennen, sagt der Hochschulforscher Hans Pechar:

OT 4 / 1:10 Pechar

Das eine ist die Publikation von Forschungsergebnissen. Da hat sich das Englische am stärksten durchgesetzt und so wie jetzt ausschaut, auf lange Sicht wird sich daran nichts ändern. Das zweite ist bei Kommunikation auf Konferenzen, der Austausch von Forsche- rinnen. Und der Dritte wichtige Bereich ist, in welcher Sprache wird gelehrt. Hier aus einer Modetorheit heraus den muttersprachlichen Unterricht durch schlecht gesprochenes Eng-

2

lisch zu ersetzten macht ja wirklich keinen Sinn, aber wenn Universitäten sich entschlie- ßen, internationale Studenten zu rekrutieren, dann müssen sie in der Regel auf Englisch umstellen.

Internationale Studierende bringen in der Regel den heimischen Universitäten mehr Geld, als sie kosten. Die Wahl der Sprache der Lehre wird somit – neben der welt- weiten Sichtbarkeit der Aktivitäten – auch zu einer Marketingentscheidung.
Doch zunächst zu einem grundsätzlichen Aspekt der Sprache, den der Überset- zungs- bzw. Translationswissenschaftler Gerhard Budin anspricht: die Rolle der Sprache im Erwerb von Wissen.

OT 5 / 00:41 Budin

Es ist einerseits einmal ein Ausdruck der Sprachökonomie. Das heißt, die menschliche Kognition funktioniert so, dass man für die Dinge, die man immer wieder braucht, oder die einen interessieren, dass man die mit Namen belegt, um auf sie mit referieren zu können. Denn wen ich jedes Mal sagen müsste, das ist ein längliches Instrument mit Haare drauf und da kann man reinsprechen, dann wäre das unökonomisch, wenn ich das immer sagen müsste. Wenn ich aber sage, das ist ein Mikrofon mit einem Windschutz, dann kann ich mich ökonomischer ausdrücken. Und dieses Grundprinzip wird in den Wissenschaftsspra- chen weiterentwickelt, aber für den Spracherwerb ist das ganz wesentlich.

Es ist aber nicht nur die Rolle des Hinweisens und Benennens, den die Sprache hier erfüllt. Sprache selbst schafft Wirklichkeit. Dies zeigt sich am besten bei der legistischen Wirklichkeit – ein Rechtssystem das erst entstehen kann, weil es Spra- che, weil es Terminologie gibt. Es ist demnach nicht egal, in welcher Sprache der Wissenserwerb stattfindet. Grundvoraussetzung für jede Wissenschaftssprache ist eine klar und differenziert entwickelte Terminologie. Die Dogmatikerin Mirja Kutzer bringt ein Beispiel aus dem Bereich der Theologie, sie beschäftigt sich mit „dem Bösen“.

OT 6 / 00:32 Kutzer

Ja, also allein schon der Ausdruck, den man benutzt, um das Böse zu beschreiben ent- scheidet letztendlich über die Phänomene, die ich darunter zu verrechnen versuche. Im Englischen haben wir „the evil“. „The evil“ würden wir im Deutschen übersetzen mit „der Böse“, oder „das Böse“ oder „die Böse“. Wir unterscheiden zwischen „dem Bösen“ als ei- ner wie immer zu fassenden Entität oder auch zwischen einer Person, die wir als personi- fiziertes Böses oder wie auch immer bezeichnen wollen.

Im Englischen fällt es leichter, einen Menschen wie Saddam Hussein als „das Bö- se“ zu bezeichnen. Diese Schwelle ist im Deutschen höher, weil es durch die Denk- konzepte, die sich hier durch das Deutsche ausdrücken, mehr Wahlmöglichkeiten

3

gibt. Am besten eignet sich aber das Französische, um über das Böse nachzuden- ken, sagt Mirja Kutzer, und das eigentlich aus einem Mangel heraus.

OT 7 / 1:07 / Kutzer

Das klassische lateinische Wort für „das Böse“ wäre das „Malum“, im Lateinischen wird dann unterschieden zwischen malum morale, das Böse, das das moralische Verhalten des Menschen betrifft, und dem malum physicum, alles was wir unter dem Naturbösen subsu- mieren. Im Deutschen hätten wir hier die Möglichkeit zwischen dem Bösen und dem Übel, eine Unterscheidung die im Französischen so aber nicht funktioniert, denn da wird beides subsumiert unter „le mal“. Das heißt aber auch, dass sich unsere französischen Kollegen oder in der französischen Philosophie dieser Zusammenhang zwischen dem Naturbösen und dem Bösen im moralischen Handeln. als Problem viel unmittelbarer stellt als uns, denn wenn wir über das Böse nachdenken, müssen wir noch nicht zwangsläufig oder über das Naturböse, also das Übel nachdenken. Während gerade die Spekulationen wie wir sie bei Paul Ricoeur finden, gerade diese Verbindung versuchen zu suchen, wo liegt sie denn diese Verbindung zwischen dem Bösen und dem Naturbösen.

Viele Begriffe sind an eine bestimmte Wissenschaftssprache gebunden, und manchmal nimmt auch ein deutsches Wort den Umweg über das Englische wieder zurück ins Deutsche, zum Beispiel der Begriff „Einfühlung“, erzählt der Grazer Germanist Robert Velussig.

OT 8 / 00:38 / Velussig

Der Begriff „Einfühlung“ aus der deutschen Philosophie um 1900, das ist diskreditiert wor- den und über den Begriff der „Empathie“ wieder reimportiert. Das ist gewisserweise die Scheu einen Begriff zu verwenden, den Leuten verwende haben, mit denen man theore- tisch nichts mehr zu tun haben möchte. Insofern kann der Export und Reimport von sol- chen Begriffen dazu dienen, dass einem die Scheu von seinem solchen Phänomen wieder genommen wird, und besonders dieser Begriff Einfühlung ist etwas, was in der Literatur- wissenschaft der letzten Jahre besonders diskutiert worden ist.

Die notwendigen Übersetzungvorgänge beim Austausch des Wissens in unter- schiedliche Sprachen sieht der Translationswissenschafter Gerhard Budin nicht unbedingt negativ.

OT 9 / 01:45 / Budin

Meiner eigenen Erfahrungen nach ist diese Zweisprachigkeit Deutsch Englisch etwas posi- tives, weil man durch diesen internen Übersetzungsprozess ja eigentlich immer kreative Moment hat, und etwas weiterdenkt. Zum Beispiel wenn ich Unterrichtsmaterialien, ich

4

habe das meistens auf Deutsch und auf Englisch, einmal unterrichte ich irgendwo international, aber auch dann hier auf der Universität und ich brauche dann zum selben Thema Unterrichtsmaterialen in zwei Sprachen, jedesmal wenn ich die Mate- rialien Aktualisierung, bei dieser Gelegenheit denke ich darüber nach, verbessere oder ergänze ich etwas, und. Natürlich gibt es auch Unterschiede in den Argumentati- onsstrategien in den verschiedenen Sprachen. Im englischsprachigen eher geradlinig, we- nig Degression, wenig Abweichungen, im Deutschen traditionellerweise eher komplex, mehrere Argumentationsstränge, die einander manchmal überschneiden, was für den Zu- hörer oder Leser nicht einfach ist oft, zu folgen, dann gibt es auch verschiedene weitere, wie arabische oder chinesische Argumentationslogiken. Andererseits durch diese Interna- tionalisierung der Wissenschaften konvergiert diese Denkweisen immer mehr, denn die Wissenschaftslogik doch wieder etwas mehr oder weniges sprachunabhängiges. Aber auch da wieder in den Naturwissenschaften wesentlich mehr sprachunabhängig, weil die Wissenschaftslogik auf einer allgemeinen Logik beruht, währen die hermeneutische Tradi- tionen, mit Verstehensprozessen und stark kulturspezifischen Ansätzen die Kulturspezifik dann doch eine Sprachspezifik ist

Mit einem Verschwinden des Deutschen aus dem Wissenschaftsbetrieb würde also tatsächlich Wissen verloren gehen, zumindest im nicht-naturwissenschaftlichen Bereich. Der Musikwissenschaftler Richard Parncutt aus Graz geht an der Schnitt- stelle Geistes- und Naturwissenschaft – selbst mehrsprachig – mit seinen Studie- renden einen konsequent zweisprachigen Weg. Er ermuntert seine Studierenden, die Zweisprachigkeit nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern gezielt zu entwickeln, und wählt selbst aus dem Fundus der Sprache jene aus, die am besten zu seinen Anforderungen passt. Richard Parncutt erzählt von einem Tag der Geisteswissen- schaften an der Uni Graz, für den sein Institut gebeten wurde, ein gutes Zitat aus der Musikwissenschaften auszuwählen, eines das das Forschungsthema „Musik“ am treffendsten beschreibt.

OT 10 / 01:34 / Parncutt

Wir haben uns entschieden, dass unser Zitat auf Englisch sein wird. Ich meine, ich fand das eigentlich nicht gut, aber in jedem Fall ist ein sehr interessantes Zitat: „Music doesnʻt just happen. It is what we make it and what we make of it“. Nun, wenn man versucht, das zu übersetzen, dann findet man, dass eigentlich die englischsprachigen Menschen viel- leicht nicht klar sind, was es bedeutet. Wenn man sagt: „Music is what we make it“, das heißt Musik hat einen gewissen Stellenwert und es hängt von unserer Einstellung wie gut oder wichtig Musik ist, das kann man aber nur relativ ausführlich erklären. Und dann kommt er nächste Satz „und what we make of it“. Und das heißt, wenn wir aktiv versuchen Musik zu fördern und Musik zu interpretieren oder eine Konstruktion von einer Musikwis- senschaft, Musikwissenschaft zu konstruieren, dann kriegen wir eine neue Version von Musik. Und das kann man auch ausführlich erklären, aber in dem englischen Satz ist es sehr knapp. Und dann entsteht die Frage sollte man das übersetzen wollen, soll man ei- nen Satz schreiben, der zwei mal so lange ist, oder drei mal so lang, und man wird natür- lich nie auf die gleiche Bedeutung kommen, weil die gleiche Bedeutung nicht definiert ist. Das hat man auch innerhalb der deutschen Sprache oder englischen Sprache, dass man nicht immer sagen kann, was man sagen will, das ist nämlich ein Thema in der Musikwis-

5

senschaft, dass man bestimmte Erfahrungen in der Musik nicht beschreiben kann, weil die Wörter fehlen. Das nennt man auf Englisch „ineffability“, das man etwas nicht vollständig beschreiben kann.

Ineffability. Das ist in der Musik das Fehlen einer Beschreibung, wo die Worte feh- len. Was in der Musik ganz alltäglich ist, fällt sprachenpolitisch unter den Begriff Domänenverlust. Oft einfach nur aus praktischen Gründen – Zeitsparen, begrenzte Ressourcen, wird nicht nur der Wissensaustausch, sondern die Forschung selbst in Englisch gemacht. Das kann dazu führen, dass diese Themen dann nicht mehr in der jeweiligen Landessprache diskutieren werden können. In Schweden ist das nicht wie in Österreich vor allem bei naturwissenschaftlichen, sondern auch in den geisteswissenschaftlichen Fächern der Fall, erzählt die schwedische Translations- wissenschafterin Elizabeth Tiselius.

OT 11 / 00:31 7 Tiselius / Übersetzung

In Schweden haben wir das Problem, dass mehr und mehr Forschung ausschließ- lich auf Englisch gemacht wird. Das schafft einen Verlust, einen Domänenverlust. Wir verlieren dabei die gesamte Terminologie in der schwedischen Sprache und haben damit nicht mehr die Möglichkeit diese Forschungsfelder auf Schwedisch, in unserer Muttersprache zu diskutieren.

Elisabeth Tiselius wünscht sich, dass Schwedisch wenigstens Englisch gleich ge- stellt wird, damit ihr Universitätsinstitut auch die rechtliche Grundlage hat, schriftli- che Arbeiten sowohl in Englisch, als auch in Schwedisch zu verfassen. Das ist aber noch nicht der Fall. In der praktischen Arbeit muss sie einen Weg finden, die feh- lende Terminologie in den schwedischen Text einzubetten.

OT 12 / 00:41 / Tiselius / Übersetzung

Ich kann Ihnen da ein Beispiel aus der Zweisprachigkeitsforschung geben. Hier geht es um input und output. Input ist das was wir Menschen hören, und output was wir sprechen. Aber wie soll ich das auf Schwedisch nennen? Inströmung und Aus- strömung vielleicht, oder Zuhörung und Produktion? Oder soll ich input und output unter Anführungszeichen setzen? Das ist eine schwierige Frage, und wir müssen uns viel mehr bemühen, eine schwedische Terminologie nicht nur zu erhalten, son- dern auch aufzubauen.

OT 13 / 01:21 / Tiselius / Übersetzung

Man kann ja auch nur in seiner Muttersprache wirklich philosophisch sein, nur in seiner Muttersprache kann man wirklich große und schwierige Fragen diskutieren. Die schwedischen Forscher sollen ruhig international auf englisch wetteifern und

6

sich austauschen, aber sie sollen auch den selben Eifer aufwenden, die schwedi- sche Terminologie zu verwenden und zu entwickeln – man kann ja nicht sagen, ach ich habe ja all meine Forschung auf Englisch gemacht, und deswegen werde ich nur Englisch verwenden. – Ich will ja nicht nur mit Leuten im Ausland über meine Forschung reden, sondern auch mit meinen Schülern, oder mit jemandem, den ich zufällig auf der Straße treffen, und erkläre, was ich beruflich mache. Und das kann man nicht machen, wenn man komische Begriffe wie input und output verwendet, oder vielleicht noch schlimmere Begriffe… [lacht].

OT 14 / 00:18 De Cilia

Ich denke, dass Englisch zentrale Rolle hat in der internationalen Kommunikation als Ver- kehrssprache, als Publikationssprache, es ist wichtig, den Studierenden und lehrenden Forschern dementsprechend gute Kompetenzen zur Verfügung zu stellen, …

Der Sprachwissenschaftler Rudolf De Zilliar, Universität Wien. OT 15 / 00:32 De Cilia

… darüber sollte man nicht diskutieren müssen, das ist klar, aber trotzdem ist es wichtig, Nationalsprachen, die ja hochentwickelt sind, deren Entwicklung Jahrhunderte lang ge- dauert hat, die in der deutschen Aufklärung begonnen als funktionsfähige Wissenschafts- sprache, praktiziert und gefördert worden. Eine Politik der Mehrsprachigkeit halte ich für wichtig und nicht die der Einsprachigkeit.

Es ist meist nicht bloß der Wille, der eine nationale Sprache weg vom Wissen- schaftsbetrieb driften lässt. Die Pflege der nationalsprachlichen Terminologie braucht vor allem Zeit und Geld, und natürlich einen sprachenpolitischen Rahmen. In Österreich ist die Wahl der Sprache den Universitäten selbst überlassen. Die Kosten der Mehrsprachigkeit werden dabei oft als Belastung gesehen, und de facto bleiben auf den Internetseiten der Institute Englisch oder Deutsch – die eine oder andere Sprache oft unberücksichtigt. Die Sprache als notwendiges Übel?

OT 16 / 01:13 / De Cillia

Das ist das Argument das häufig gebracht wird, das ökonomistische Argument, die Kosten der Mehrsprachigkeit. Es gibt Leute, die drehen das um: die sagen, die Kosten der Ein- sprachigkeit , die Einsprachigkeit ist teurer. Die Einsprachigkeit hat wenn man so will dann soziale Kosten. Kosten sind ja nicht nur ökonomische Kosten. Wenn man generell gese- hen einsprachige Politik macht, riskiert man soziale Konflikte. Roland Bart sagte, einem Menschen seine Sprache nehmen, alle legalen Morde beginnen da, und natürlich wehren sich die Menschen, dass man Sprache nimmt. —- Das könnten sozialen Kosten im Wissenschaftsbereich sein. Die Entwicklung der Wissenschaftssprachen im Mittel- alter hat zu Beginn der Neuzeit, 16. Jahrhundert aufwärts mit der Demotisierung der

7

Wissenschaft, mit der Demokratisierung der zunehmenden Entwicklung der einzel- nen Wissenschaftssprachen dazu geführt, dass das Wissen immer mehr allen Be- völkerungssprachen zur Verfügung gestellt werden konnte. Das Mittelalter war ja letztlich eine dogmatische Form der Wissenschaft, wo die Dogmatik über die Jahr- hunderte fortgeschrieben hat, was richtig und was falsch ist.

Nicht zufällig haben diese neuen Wissenschaftssprachen, die in allen europäischen großen Ländern starteten, das Englische, das Französische, das Spanische, dazu geführt, dass die Wissenschaft demokratisch wurde.

OT 17 / 00:37 / De Cillia

Ein wissenschaftlicher Unitarismus, so schätzen das Kolleginnen und Kollegen ein, wenn man nur in einer Sprache forscht und kommuniziert, auch im deutschsprachigen Raum nur noch auf Englisch kommuniziert, was in bestimmten Bereichen jetzt schon der Fall ist, dass man wieder zu einer Entdemokratisierung der Wissenschaft kommt, dass zum Bei- spiel die Medizin immer weniger in der Lage ist, auch der breiten Bevölkerung zu kommu- nizieren, was da passiert, was die Forschungsergebnisse sind, wie Therapien durchzufüh- ren sind oder durchgeführt werden.

Der FWF, der Wissenschaftsfond ist Österreichs größter Geldgeber für For- schungsprojekte. Der Fonds bemüht sich in seinen Eingabeformularen ausdrück- lich um Zweisprachigkeit – die Projektbeschreibungen selbst sind allerdings nur noch auf Englisch einzureichen – auch in den Geisteswissenschaften. Die Antrags- sprache Englisch ist eine autonome Entscheidung des FWF und hat vor allem den Grund, dass Gutachten über die Förderungswürdigkeit der Projekte ausschließlich im Ausland eingeholt werden. Hier werden gewinnen zunehmend auch die sprach- lich weiter entfernten EU Länder und Asien von Bedeutung. Einzig für Germanisten gibt es Ausnahmen erzählt die germanistische Mittelalterforscherin Karin Kranich.

OT 18 / 00:28 / Kranich

Es gibt aber auch Kooperationen, wo auch technische Fächer mit geisteswissen- schaftlichen Fächern kooperieren, es gibt Programme, die grundsätzlich überhaupt Englisch strukturiert sind, dort ist es schon so, dass man zum Projektantrag eine englische Version dazugeben muss, manchmal auch englischsprachiges Hearing gemacht wird. Dazu müssen wir uns in irgendeiner Form aufraffen.

Die englischsprachige Weiterbildung erfolgt dabei im eigenen Interesse, sagt Karin Kranich.

OT 19 / 00:29 / Kranich

8

Da muss man sagen, es gibt an den österreichischen Unis, in Graz ist das ziemlich gut ausgebildet, ein hausinternes Weiterbildungsprogramm, da gibt es einen Kurs der Standard ist, den besucht man immer wieder. Da gibt es einen Kurs, der Stan- dard ist, English for Academic Purposes, den besucht man immer wieder oder auch English conversation in Academical teaching, oder derartiges, das ist in einem ge- wissen grad auch Selbstschutz, weil man dort Ängste abbaut, nicht kommunizieren zu können.

Was ist der Unterschied zwischen ‘Sein’ und ‘Dasein’ bei Heidegger? Den Un- terschied zwischen ‘Sein’ und ‘Dasein’ kann man noch relativ leicht auf eng- lisch erklären, bei ‘Sein’ und ‘Seiendes’ wird es dann schwieriger,
recht mit der „Seiendheit des Seins!“. – Der Franz Pöchhacker kennt die Tücken der Übersetzungen, selbst bei einfacheren Themen. Für ihn ist Sprache kein notwendiges Übel, sondern eine Faszination, die sich manchmal besonders erst zeigt, wenn von einer Sprache in die andere übersetzt wird.

OT 20 / 1:20 / Pöchhacker

Von der Motorentechnik bis zu den Kunststoffen bis zu politischen Überlegungen findet man überall Beispiele für schlechtes Englisch, so nach dem Motto der Äußerung die einem deutschen Bundeskanzler einmal zugeschrieben wurde, als er sich kurz fas- sen wollte und auf Englisch referierte und eingangs sagte: Ladies and Gentlemen, let me be short and pregnant. Aber es gibt vor allem durch sehr extreme Akzente im englischen aus neuerer Zeit Beispiele, wo dann auch die Dolmetscher drüberstolpern. Das sind dann Fälle wo die internationale Sprache Englisch für die Wissenschaft zu Verständ- nisschwierigkeiten führt, weil die Kollegen das stark akzentuierte koreanische oder italieni- sche Englisch nicht gut verstehen oder weil auch mitunter die Dolmetscher drüberstolpern können. Der Kollege hat mir vor ein paar Wochen gesagt, dass er den Ausdruck „stud- eyes“ offenbar als etwas mit Augen verbundenes rezipiert hat, und nicht wusste, was er mit diesem stud-eyes tun sollte, bis er dann draufkam, dass das eine sehr schlechte Aus- sprache des englischen Wortes studies war. Da kanns dann sicher beim Dolmetschen zu Reibungsverlusten kommen.

Englisch ist zur Lingua Franca der Wissenschaften geworden. Zur Verkehrs- sprache, deren Niveau, bei denen, die sie verwenden, aber gar nicht an das hohe Sprachniveau von Muttersprachlern heranreichen müsste. „Gutes“ Eng- lisch gibt es aber eigentlich es nicht unter jenen, die Englisch als Verkehrs- sprache benützen – es ist eine Frage der „Angebrachtheit“. Diese unter Ang- listen nicht unumstrittene Sicht vertritt die Anglistin und Lingua Frank For- scherin Barbara Seidlhofer.

OT 21 / 00:25 Seidlhofer Lingua Franka

und erst

9

Dolmetschwissenschaftler

Es ist immer die Frage für welchen Zweck, welche Funktion erfüllt die Sprache, und nicht den Formen nach, gut oder perfekt. Natürlich kann man sagen, Queen English oder Hipp Hopp English sind echt, das sind Sprachformen, die von Native Speakern gesprochen werden. Gleichzeitig wenn ich mit Queens English oder mit Hipp Hopp English auf eine Mathematikerkonferenz sein, werde ich völlig fehl am Platz sein.

Bad Simple English – nennen Spötter die schlechte Qualität der international gesprochenen Englischs nennen – und dieses schlechte English wird trotz jahrelangen Sprachenlernens auch noch mittelmäßig ausgesprochen. Auch sei nicht grundsätzlich ein Problem.

OT 22 / 00:42 / Seidlhofer

Vokale, die etwa in der Perzeption sehr hervorstechen, weil Sie gerade gesagt haben Bad Simple English, wenn das ein Österreicher gesagt hat, sagt er Bad Simple English statt einem offenen A Laut spricht er es mit einem E Laut aus, und statt English sagt er INglish. Das macht abe rin der internationalen Verständigung keine Schwierigkeiten. Aber wenn ich meine Konsonanten nicht aussprchen kann, außer dem TH, und zum Beispiel wenig Unterschied mache zwischen einem pill und bill, dann wäre das eine Unterscheidung, die wichtig wäre, und auch die Apsiration von dem pill.

Für den englischsprachigen Unterricht an Schulen hätte eine Stärkere Berücksich- tigung von Englisch – nicht als Kultursprache, sondern als Lingua Franca – als Aus- tauschsprache – besondere Bedeutung, sagt Barbara Seidlhofer.

OT 23 / 00:42 / Seidlhofer Lingua Franka

Jetzt nicht in dem Sinn, das man schlechtes Englisch unterrichte, sondern dass ich in der beschränkten Unterrichtszeit ich Dinge unterrichte, die für die internationale Kommunikati- on wichtig sind. Das heißt ich werde mich dann nicht stundenlang hinstellen und meinen Schülern sagen, gibt die Zunge zwischen die Zähne und spuck ein bisschen und sag think, und gleichzeitig aber schauen, dass die Längen der Vokale, ob ich sage to be oder the bee sage, dass sie die Konsonanten richtig aussprechen, von denen man weiß, dass sie für die internationale Verständlichkeit wichtig sind.

SPRECHERIN

Sie hörten: Quantensprung – oder vielleicht besser Quantum jump?

OT 24 / 00:57 / De Cillia

10

Die Sprache als Instrument der wissenschaftlichen Aneignung der Realität außer- sprachlichen Realität, die unterschiedlich organisiert ist je nach Einzelsprache, das ist das zentrale Argument all jener die der Meinung sind, eine einzige Wissen- schaftssprache ist ein Verlust. Ich glaube das schon, wenn jemand nicht mehr in der seiner Muttersprache, Erstsprache, oder die Sprache, die man am besten be- herrscht, wenn man nicht mehr darin forschen kann, weil die nicht mehr als Wis- senschaftssprache funktioniert, dann ist man nicht mehr konkurrenzfähig mit de- nen, die das in ihrer Muttersprache tun. Und zwar was die wissenschaftliche Kreati- vität betrifft. Und ich glaube, das wissenschaftlich Forschung in Chemie, Physik, überall, ein eminent kreativer Prozess ist, und nicht einfach eine reine Terminolo- giefrage sozusagen.

SPRECHERIN

Eine Sendung zur Frage der Einsprachigkeit der Wissenschaft von Lothar Boding- bauer.

OT 25 / 00:16 / De Cillia

Man kann Wissenschaftssprache sicher nicht reduzieren auf Nomenklaturen, auf Termino- logien, die man von einer Sprache in die andere ganz einfach übersetzen kann. Dort, wo kreatives Forschen stattfindet, dort spielt die Sprache eine zentrale Rolle.

Sprecherin

Gesprochen haben ____________ und der Gestalter. Morgen in den Dimensionen…

DIE ABSAGE WIRD EIN BISSEL LÄNGER. ICH HABE SIE IM BÜRO. SIE KANN VON NINA STREHLEIN GESPROCHEN WERDEN…

18281 14:00

070. Katalog des Lebens: Carl von Linné

070. Katalog des Lebens: Carl von Linné

Zum 300. Geburtstag von Carl von Linné: Der schwedische Naturwissenschaftler Carl von Linné war leitender Gärtner des Botanischen Gartens von Uppsala. 1745 legte er eine Blumenuhr an, die mit dem zeitlich unterschiedlichen Aufblühen von Blumen im Laufe des Tages die Uhrzeit anzeigte. Wirklich bekannt und berühmt wurde Carl von Linné jedoch durch sein Bemühen, die Arten der Natur zu sortieren und zu katalogisieren. Er entwickelte eine Taxonomie von Tieren und Pflanzen, die mit ihren lateinischen Doppelnamen auch heute noch als „Katalog des Lebens“ von all jenen verwendet wird, die sich praxisbezogen mit Lebewesen beschäftigen. Wissenschaftlich entwickeln sich vor dem Hintergrund genetischer Untersuchungsmethoden die Konzepte der Unterscheidung von Arten nun in eine völlig andere Richtung. Künftige Taxonomien aufgrund von DNA-Basensequenzen scheinen jedoch den praxisbezogenen Zweck des Umgangs mit Arten und Artkonzepten nicht zu erfüllen. Die Sendung beantwortet die Frage, wie Carl von Linné die Taxonomie der Natur entwickelt hat, und in welcher Weise sie heute noch notwendig und zeitgemäß ist.

https://www.sprechkontakt.at/audio/radio070_dim_linne.mp3

CARL VON LINNÉ – 300. GEBURTSTAG

MANUSKRIPT DIMENSIONEN

LOTHAR BODINGBAUER

23. Mai 2007

DIGAS    Zitat Carl von Linné

Worte können die Freude nicht beschreiben, die nach dem Winter durch die Sonne allem Leben gebracht wird. Der Birkhahn und der Auerhahn beginnen ausgelassen zu sein, der Fisch sich immer schneller zu bewegen. Jedes Tier fühlt einen sexuellen Drang. – Ja, Liebe kommt sogar zu den Pflanzen. Männliche und weibliche, sogar die Hermaphroditen halten ihre Hochzeit – das ist das Thema, das ich hier diskutieren werde – sie alle zeigen ihre sexuellen Organe. 

Wenn das Blüten-Bett gemacht ist, dann ist es Zeit für den Bräutigam, seine geliebte Braut zu umarmen und sich ihrer hinzugeben.

DIGAS    Sprecher 

Der Katalog des Lebens

CD 1/1    0:15    OT Deutsch Marietta Manktelow-Steiner

Im 19. Jahrhundert er war wie ein Heiliger. Er machte keine Fehler, er war phantastisch. Er war unser König, unser schwedischer Blumenkönig. Er war sehr freundlich zu den Leuten. Aber er hatte auch seine schwarzen Stunden…

DIGAS    Sprecher 

Zum 300. Geburtstag des schwedischen Naturforschers Carl von Linné

CD 1/2    0:21    OT Deutsch Marietta Manktelow-Steiner

Wir systematisieren unsere Häuser, und was wir haben. Es ist eine Arbeit, das ist natürlich. Denn das menschliche Gehirn muss mit Systematik arbeiten. Und dann hat man einige Leute, die sind supergut auf systematisieren, und sie können große Systematik machen, und Linné war einer von diesen Menschen.

DIGAS    Sprecher 

Eine Sendung von Lothar Bodingbauer.

CD 1/3    0:24    OT Deutsch Marietta Manktelow-Steiner

Also Linné war ja ein sehr großer Wissenschaftler. Linné hatte eine große Bedeutung für Sprechen von der Natur. Er konnte die Natur beschreiben in solcher Sprache, dass Leute heute das lesen können, und spüren, dass er fühlte, wie wir fühlen von der Natur.

Mikro    Text 

Mariette Manktelow-Steiner ist eine der direkten Nachfolger von Carl von Linné. Sie hat in Wien Botanik studiert, und arbeitet heute an der Universität Uppsala, dem Cambridge des Nordens, ein wissenschaftliches Zentrum für Medizin und die angrenzenden Naturwissenschaften. Linné verbrachte dort die größte Zeit seines Lebens. 10 km außerhalb der Kleinstadt erwarb er ein Sommerhaus, um den schädlichen Einflüssen des Stadtlebens zu entgehen – und Botanik zu betreiben, in seinen Rabatten – den Beeten, die er anlegte und deren Inhalte er sorgsam beschriftete. 

Heute befinden sich in jedem Botanischen Garten der Welt unzählige Pflanzen, die im Namensschild ein „L“ führen. Dieses „L“ steht für Linné. Man kann daran erkennen, dass Carl von Linné diese Pflanze als erster wissenschaftlich beschrieben hat.

Geboren wurde Carl von Linné vor genau 300 Jahren in Südschweden, am 23. Mai 1707, gerade als Isaac Newton in England starb und Exkursionen von Forschern rund um die Welt im vollen Gang sind. Die Fundstücke der belebten Natur werden zurück an die Universitäten und Akademien gebracht, in Kisten und Säcken, in Skizzen und Reistagebüchern. Diese Funde brauchen einen Namen. Sie müssen geordnet werden. Linné sortierte die heimische Natur und die fremde. – Von der Hausmaus bis zur Kiefer. Fast die gesamte europäische Flora und große Teile der Fauna wurde von ihm beschrieben. 

Linné beendete das damalige Namenschaos, in dem er 18.000 europäische Pflanzennamen auf nur etwa 3.000 reduzierte und ein System für die Vergabe entwickelte. Die zwanzig oder mehr verschiedene Bezeichnungen für den Feldhasen ersetzte er durch: Lepus europaeus – der europäische Hase; und – revolutionär für diese Zeit: Linné ordnete den wissenden Mensch, den Homo Sapiens, in das Reich der Tiere ein, und nicht als Bindeglied der irdischen Schöpfung zu den Engeln. Alles, sagte er dennoch, alles sei Teil eines göttlichen Plans, jedes Stück der Natur ist Teil einer Ordnung, die es zu finden gilt.

CD 1/4    0:36    OT Deutsch Marietta Manktelow-Steiner

Er war nicht ein Prozessmensch, er war nicht ein Prozessforscher. Er war ein Systematiker und damit möchte er alles sortieren und das ist typisch für einen Musterforscher, wenn man so sagen kann. Also Systematiker in dieser Welt sie machen eine große Arbeit, um alle Dinge zu sortieren. Und das ist ja sehr notwendig für all die anderen Forscher, die mit den Prozessen, zum Beispiel evolutionäre Prozesse arbeiten möchten. Das muss man auch einen Baum des Lebens haben.

Mikro    Text 

Mariette Manktelow-Steiner organisiert im Linné-Jubiläumsjahr 2007 die wissenschaftlichen Anteile der Feierlichkeiten in Uppsala. Mit Linné teilt sie den Beginn des Wegs der Interessen.

CD 1/5    0:48    OT Deutsch Marietta Manktelow-Steiner

Als ich 14 Jahre alt war, es war so gut, Pflanzen zu sammeln und pressen und so. Mein Vater schaute mich in der Flora, da war ein Schlüssel. Man konnte die Arten finden durch diesen Schlüssel. Das war vollkommen faszinierend für mich. Ich konnte das nicht ändern ich muss immer diesen Schüssel verwenden ich wollte immer alle Arten lernen, und darum bekam ich ein Botaniker und ich glaube ich bin ein Systematiker, ein Systematiker vom Anfang. Also ich habe ein Systematikergehirn und jetzt systematisiere ich nicht Pflanzen, sondern diese Projekt von Linné Jubiläum das ist dieselbe Arbeit aber mit anderen Dinge zu sortieren.

Mikro    Text 

Ein Systematiker versucht, unterschiedliche Dinge oder auch Vorstellungen, abstrakt oder konkret, in eine Ordnung zu bringen. Er gruppiert sie nach Eigenschaften, die er selbst festlegt oder für wichtig hält, oder nach Regeln, die von der Wissenschaftsgemeinde entwickelt und für wichtig gehalten werden.

Linné schuf 24 Klassen von Pflanzen, in die er jede einzelne einordnete. Das Kriterium dafür ist bestechend einfach und für jedermann zugänglich: die Anzahl und Anordnung der Staubfäden und Stempeln in den Blüten, die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane. Karin Martinsson ist ebenfalls Botanikerin an der Universität Uppsala.

CD 1/6    1:6    OT Englisch / Weiblich Karin Martinsson

Das wurde vor ihm nicht gemacht, und es gab nun eine neue, praktische Methode. Es ist sehr einfach, die Staubblätter und die Stempel zu zählen, und dann die Art in eine der 24 Klassen des Sexualsystems zuzuordnen.

Wir haben hier eine Fuchsia. Und wenn wir da die Staubblätter zählen, da haben wir… – [warten bis engl. „8“ genannt wird“] 8 Staubblätter. Die Fuchsia gehört also in die Klasse Octandria – mit 8 Staubblättern und einem Stempel. 

Linneus selbst erkannte, dass das kein natürliches System ist. Diese Klassen reflektieren nicht, wie die Arten verwandt sind. Aber es ist ein sehr praktisches System, und es machte möglich, all die neuen Arten zu klassifizieren, die aus der ganzen Welt nach Europa gekommen sind, als Ergebnisse der wissenschaftlichen Exkursionen.

Mikro    Text 

In der Folge entstand die Wissenschaft der klassischen Taxonomie, die sich bis heute erhalten hat. Die Lebewesen – nicht nur die Pflanzen – werden in Gruppen sortiert, die einem hierarchisch geordneten Kategoriensystem zugeordnet werden. Je weiter oben in der Hierarchie, desto abstrakter. Die unterste Stufe bildet die konkrete Art. Zum Beispiel: das Buschwindröschen. Darüber: Die Gattung – Windröschen, aus der Familie der Hahnenfußgewächse, die zur Abteilung der Bedecktsamer gehört, aus der Überabteilung Samenpflanzen, dem Unterreich der Gefäßpflanzen und – ganz oben in der Hierarchie – dem Reich der Pflanzen. 

((Nächster Cut starten, beginnt mit Atmo))

Lenna Hansen ist leitende Gärtnerin in Linnés früherem eigenen kleinen botanischen Garten, mitten in Uppsala.

CD 1/7    1:26    OT Englisch / Weiblich Lena Hansson

Das ist ein kleiner Unterstand, wo wir die Schilder während dem Winter aufbewahren. Diese Schilder sind aus Schiefer, und wir haben eine kleine Malerei auf der Vorderseite, und dann die Linné’schen Namen. Einen neuen Namen, wenn es ihn gibt, stellen wir danach in Klammer. Dann das Gebiet, wo die Pflanze vorkommt, dann eine lateinische und eine arabische Zahl, das ist die Klasse und Ordnung im Sexualsystem. So weiß man gleich, in welchem Gebiet man hier im Garten nach der Pflanze suchen soll. Und dann kommt noch der schwedischen Namen – wenn es einen gibt. Alle kennen wir gar nicht mehr, die es damals gab, denn sie haben sich in ganz Schweden sehr unterschieden.

Mikro    Text 

Linnés Hauptwerk, die „Systaema Naturae“, veröffentlichte er 1735 in der holländischen Universitätsstadt Harderwijk, wo er mit seinen aus Schweden mitgebrachten Arbeiten das Doktordiplom der Medizin erwarb. Er hatte kein Geld mehr, doch ein Gönner, der Botaniker Jan Frederik Gronovius finanzierte das Werk, das in seiner ersten Auflage nur 10 Folioseiten enthielt, während die 13. Auflage, 35 Jahre später, schon aus mehr als 3.000 Seiten bestand. 

Der eigentliche Beginn des linnéschen Namenssystem ist 1753 mit seinem Buch: „Species planetarum“ anzusetzen, in dem er alle bekannten Arten des Pflanzenreiches publizierte, und drei Jahre später, in der zehnten Auflage der „Systema Naturae“ veröffentlichte er auch die Namen aller ihm bekannten Tiere.

Vor dieser Zeit wurden die Arten durch eine Aufzählung ihrer Eigenschaften benannt. Zum Beispiel hieß das Buschwindröschen: „Anemone seminibus acutis foliolis incisis caule unifloro“, und das bedeutet: Anemone mit spitz zulaufenden Samen, eingeschnittenen Blättern und einblütigem Stiel. 

Der neue Name hebt die Unterschiede hervor: Anemone nemorosa, die Anemone des Waldes, im Gegensatz etwa zur Anemone Alpina. Die – ja, und jetzt sind wir bei einem Problem, die Alpen-Kuhschelle. Die „Anemone alpina“ wird nämlich heute nicht mehr den Anemonen, sondern der Gattung der Kuhschellen zugeordnet: Pusaltilla alpina heißt sie heute. Der alte Name: Anemone alpina ist als Synonym geblieben. 

Das System, so schrieb Linné, sollte so einfach sein, dass eine Art ohne die Hilfe eines Lehrers identifiziert werden kann. Und gerade deshalb wird es heute weltweit verwendet, von allen, die praktisch mit Tieren und Pflanzen arbeiten, handeln und forschen. Zum Beispiel auch Matz Hjertson, Evolutionsbiologe in Uppsala.

CD 1/8    0:25    OT Englisch / Männlich Matz Hjertson

Das ist einer der Räume in unserem neuen Gebäude, mit extra Security und Klimakontrolle. Dieses Material wurde von Linneus hier in Uppsala verwendet. – Ich ziehe jetzt meine Handschuhe an, um Ihnen etwas zu zeigen. – Das ist das Stück Pflanze, das ist die Grundlage für den Namen.

Mikro    Text 

Welche Überraschung. In diesem Hochsicherheitsraum in Uppsala befindet sich unter vielen anderen gepressten Pflanzen auch DAS Buschwindröschen aus unserem vorigen Beispiel, die Naemone Nemorosa. Ähnlich dem Pariser Urmeter für die Physik – ist dieses eine Exemplar die Referenzpflanze für die Beschreibung und den Namen der Art.

Linné war sich der Bedeutung dieser Typus-Expemplare für die Forschung noch nicht bewusst. Wenn er ein besseres Exemplar bekam, tauschte er es einfach aus. Das konnte in der Folge zu Problemen führen: zur Vermischung von Arten, besonders von „schwierigen“ Arten.

CD 1/9    0:40    OT Englisch / Männlich Matz Hjertson

Bei vielen Pflanzen, die heute von Forschern untersucht werden, müssen sie zunächst einmal wissen, womit sie es grundsätzlich zu tun haben. Sie beginnen mit einer Art, die sie aufgrund ihres Aussehens festlegen, genau so wie Linné es getan hat. Aber manchmal stellt sich heraus, dass diese Art, auf diese Weise morphologisch beschrieben, „nicht hält“. Es gibt sehr ähnlich aussehende Arten, die jedoch eine unterschiedliche genetische Basis haben. 

Jeder hier in Europa kennt zum Beispiel einen Apfel. Es gibt aber verschiedene Kulturarten. Und wenn man auf die genetische Kodierung schaut, kann man auf hunderte, wenn nicht auf 1000e Varietäten stoßen.

Mikro    Text 

Die heutige Taxonomie hat die Linnésche Taxonomie weiterentwickelt und verfeinert, sie versucht die Arten nach inneren Kriterien zu verbinden, nicht nach der bloßen äußeren Erscheinungsform. Sie arbeitet mit DNA-Analyse, Computermethoden, Matrizen und Wahrscheinlichkeiten.

Eine völlig neue Taxonomie – der so genannte Phylocode, ein Strichcode des Lebens auf DNA-Basis, kommt derzeit über seine Kinderschuhe nicht hinaus. Nicht zuletzt durch seinen Ansatz, für alle Arten völlig neue Namen zu vergeben. Und die klassische Taxonomie nach Linné hat einen Vorteil: sie gilt als äußerst stabil, denn wissenschaftliche Ansichten über Verwandtschaftsverhältnisse können sich weitaus schneller wandeln, als die äußere Erscheinungsformen,die Kriterien nach denen die Arten ursprünglich geordnet wurden. 

Allen Methoden gemein ist, dass sie DEN Baum des Lebens zeichnen wollen. Ist er denn wirklich ein Baum?

CD 1/10    0:36    OT Englisch / Männlich Matz Hjertson

Das ist wahrscheinlich nicht der Fall. Wenn man bei den Mikroben schaut, bei Bakterien und ähnlichen Lebewesen, dann gibt es einen kontinuierlichen Gen-Transfer zwischen verschiedenen Arten, wir haben Virusse, die Gen-Sequenzen übertragen, gleichsam über den ganzen Platz. Es sieht auch danach aus, dass horizontaler Gen-Transfer zwischen Pflanzenarten öfter vorkommt, als bisher gedacht. 

Statt einem verzweigenden Baum des Lebens müssen wir heute mehr immer von einem Netz sprechen, zumindest in bestimmten Gebieten.

CD 1/11    0:23    OT Deutsch Marietta Manktelow-Steiner

Die Klassifizierung der Organismen wird verändert jede Minute, jede Stunde, während wir hier sitzen und reden, so forscht jemand in der Welt ein Forscher, ein Forscher korrigiert, ein kleinen Zweig auf dem Baum des Lebens. Jede Stunde verändert sich diese Klassifikation.

Mikro    Text 

Was wäre ein Botaniker ohne botanischen Garten, klagte Linné dem schwedischen König, und erhielt daraufhin und aufgrund seiner bisher gebrachten wissenschaftlichen Leistungen unterhalb des Schlosses von Uppsala ein Gelände, das noch der heutigen Universität als botanischer Garten dient. Eric Århammer betreut als leitender Gärtner das Linneanum, die Orangerie.

CD 1/13    0:45    OT Deutsch Erik Århammer

Wir gehen jetzt hinaus in die Orangerie, wo hier die Mittelmeergewächse stehen, zu den vier Lorbeerbäumen von Carl von Linné, die er als Stecklinge bekommen hat. Das sind große alte knorrige Bäume, hier sind wir beim ersten schon angelangt. Vom Alter geprägt, rissige knorrige Rinde, 6m hohe Lorbeerbäume, 270 Jahre alt ungefähr, 4 Stück. Hier steht dann Laurus Nobilis, das ist der lateinische Gattungs- und Artname, dahinter solle dann ein L stehen, weil Carl von Linné hat diesen Baum wissenschaftlich beschrieben.

Mikro    Text 

Wie die meisten Botaniker war Linné ein guter Beobachter und Beschreiber der Verhältnisse. Er schrieb wertfrei, präzise, auf Schwedisch und damit für alle verständlich. Legendär sind seine Berichte über eine ausgedehnte Lapplandexkursion, die er schon als 25-jähriger unter großen Strapazen unternahm.

CD 1/14    0:29    OT Deutsch Erik Århammer

Da hat er alles aufgeschrieben, was ihn an Neuigkeiten zukommen konnte, wie auch die Sitten und Gebräuche der Ortsbevölkerung und das Wetter und die Landschaft und die verschiedenen Gebrauchsgegenstände. Er hat alles beschrieben. Das ist unglaublich informativ gewesen und ist es heute noch, das ist sehr interessant zu lesen.

DIGAS    Zitat Carl von Linné

Sogar die lahmste Kuh, die unter normalen Umständen kaum in der Lage wäre, zu gehen, rennt wie ein Rentier durch die Felder. Ihre Schwänze auf und ab, sie laufen und springen, bis sie schließlich zu einer Wasserstelle kommen, wo sie halten, wie eine Rast auf der Flucht vor einem Feind. Ich haste herbei, um zu sehen, was sie da mit einer Kraft größer als die einer Peitsche oder der Tod selbst gejagt hat, und finde etwas, dem ich selbst schon begegnet bin: Oesturs Bovi. Diese Bremsen attackieren nicht den Körper, sondern die Füße, zwischen den größeren und den kleineren Hufen der Tiere. Das Insekt fliegt keine zwei oder drei Spannen über den Boden, meistens nur auf halber Höhe. Das Vieh rennt, bis es Wasser findet, worin es stehen kann, bis die Bremsen sie nicht mehr belagern.

Mikro    Text 

Linneus wissenschaftlichen Exkursionen innerhalb Schwedens waren von seinen Auftraggebern – der Universität oder der Krone – auch dazu gedacht, neue Möglichkeiten für Anpflanzungen zu finden, für Arten, die bisher teuer importiert werden mussten. 

Er forderte, nachhaltig mit den Wäldern umzugehen, und immer mehr wandelte er sich von der Beschreibung des Zustands zur Vorstellung des Faktors „Zeit“. Erst spät entwickelte er eine Vorstellung von „Evolution“. Olof Jacobson, Leiter der schwedischen Linné-Gesellschaft:

CD 1/15    1:39    OT Englisch / Männlich Olof Jacobson

Als er begann, dachte er, dass alles bereits erschaffen war, und alle Arten bereits fertig. Aber bevor er starb, war er überzeugt, dass eine Art von Evolution vor sich geht. Er konnte es nicht benennen, wie. Aber er war überzeugt, dass „etwas“ von sich geht. Was das Alter des Planeten betrifft, war er überzeugt, dass er viel älter ist, als was man bisher gedacht hat, wenn man das Alter nur von der Bibel übersetzt. — Er bestieg einmal den Berg Chinekola (sprich: „chine-kolä“) , einen Berg mit vielen Schichten, und er war wie immer sehr sorgfältig, die verschiedenen Schichten zu beschreiben. Als er das getan hat, sagte er, es wäre dumm zu denken, dass die Steine über den anderen Schichten zur selben Zeit erschaffen worden sind, als die anderen. Wir sehen eine immense Anzahl von Jahren vorbei streichen. Wir hatten ein Meer hier einmal, es waren Tiere darin, die haben wir heute nicht mehr, sie sind aber in dieser Schicht. Darüber sieht man viel Sand, da war ein Fluss mit Sandschichten. Darüber gibt es wieder andere Schichten, wo es viele Pflanzen gibt. Und was man über all diese Schichten herausfinden kann, ist, dass die Kreation der Erde ein Produkt der Zeit ist.

DIGAS    Zitat Carl von Linné

Mir wird schwindlig, wenn ich auf diesen Höhen stehe und hinunterschaue durch die Zeitalter und sehe, wie Klangwellen gleich, die fast verloschenen Spuren einer früheren Zeit, die heute nur noch flüstern kann, und alles andere von damals ist bereits still. 

Mikro    Text 

Neben seinen naturgeschichtlichen Lehrbüchern verfasste Linné unzählige Manuskripte und Briefe, die derzeit von der Schwedischen Linnégesellschaft klassifiziert, systematisiert und als Faximile mit englischer Zusammenfassung im Internet veröffentlicht werden.

CD 1/16    0:29    OT Englisch / Männlich Olof Jacobson

Er hatte ein großes Korrespondentennetz. Linné hatte mehr als 400 Korrespondenten außerhalb von Schweden. Das ist wirklich ein Netzwerk. Wenige Wissenschaftler heute haben ein lebendes Netzwerk einer derartigen Größe, und er benützte es, um an Informationen heranzukommen, und um Informationen herzugeben, über die Naturwissenschaften.

Mikro    Text 

Schon als Medizinstudent im 2. Jahr hielt Carl von Linné Vorlesungen über Botanik. Er präsentierte Naturgeschichte als etwas Neues. Seine Exkursionen, Herbationes genannt, sind heute legendär. Die Studenten erhielten Aufgaben: einige hatten zu schreiben, andere zu zeichnen, einer holte mit einer Flinte die Vögel vom Himmel – Ferngläser gab es noch nicht, um sie genau zu beschreiben. Alle andern botanisierten und scharten sich – manchmal zu hundert bis zweihundert – um ihn. 23 seiner Studenten wurden selbst Professoren.

DIGAS    Zitat Carl von Linné

Niemand vor ihm, hat seine Studien mit größer Begeisterung verfolgt und niemand hatte mehr Hörer, niemand vor ihm machte mehr Beobachtungen im Bereich der Naturgeschichte, hatte eine größere Einsicht in die drei Reiche der Natur, niemand vor ihm war ein größerer Botaniker oder Zoologe, und hat die Flora, Fauna und Topographie seines Landes besser beschrieben als er. Niemand schrieb mehr Bücher, schrieb sie richtiger, methodischer, niemand hat die ganze Wissenschaft so sehr verändert und eine neue Zeit eingeleitet. Niemand schickte seine Wissenschaft in so viele Teile der Welt, schrieb seinen Namen auf mehr Pflanzen und Insekten, und tatsächlich – auf die ganze Natur, und niemand listete so viele Lebewesen auf, wurde Mitglied so vieler wissenschaftlicher Gesellschaften, und niemand …

… wurde berühmter, als er.

Mikro    Text 

Wer hier über Linné schreibt, ist Linné selbst. Es war Stil seiner Zeit, seine eigene Biographie in der dritten Person zu schreiben, um sie als Lebenslauf für Bewerbungen zu verwenden, oder als Nachruf für sein Begräbnis. Es war aber sein persönlicher Stil, das reichlich selbstbewusst zu tun.

CD 1/17    1:0    OT Deutsch Marietta Manktelow-Steiner

Er war ein Sohn von einem Pfarrer, sein Großvater war ein Bauer. Er selbst bekam ein „von“. Er war adelig. Er machte eine Klassenreise. Wir sagen es auf Schwedisch. Damit folgen immer Komplexe. Man fühlt sich nicht gut genug. Man macht gute Dinge, man wird berühmter aber drinnen ist man immer zweifelnd und man denkt, vielleicht bin ich nicht so gut, wie sie sagen. So wenn man liest Linneus Selbstbeschreibung, dann schreibt er. Ich bin der berühmteste Botaniker der Welt, und alle müssen meinem Sexualsystem folgen aber gleichzeitig konnte er schreiben: Wenn ich sterbe, wäscht mich nicht. Ich bin nicht eine große Person, vergesst mich nur …

DIGAS    Zitat Carl von Linné

Legt mich in einen Sarg, ungewaschen, ungekleidet, eingewickelt in ein Leintuch. Nagelt den Sarg zu, damit niemand meine Erbärmlichkeit sieht, lasst die Glocken der Stadt-Kathedrale läuten, aber keine Glocken am Land; und Männer meiner Heimat sollen mich zu Grabe tragen. Es soll keine Unterhaltung geben, und auch kein Bedauern.

Mikro    Text 

Charles Darwin wurde für seine Evolutionstheorie gescholten und gebeutelt, seine Ideen wurden von Rassisten missbraucht. Mit Carl von Linné ist das bis heute nicht geschehen. Sein System der Namensvergabe ist, so scheint es, ohne Tadel, jeder kann damit arbeiten und ableiten, was auch immer er kann und will. 

Gibt es dennoch Schattenseiten? Im Alter wurde Linné depressiv, er war massiv überarbeitet. In den Sommermonaten arbeitete er von 4 Uhr Morgens bis 10 Uhr Nachts. 

Kann Systematik auch zu einer Obsession werden? Marietta Manktelow-Steiner:

CD 1/18    0:53    OT Deutsch Marietta Manktelow-Steiner

Ja natürlich, das ist so, und vielleicht war es auch so für Linné. Ein bisschen, weil er systematisierte auch Moral, er hatte Beobachtungen von Menschen in seinem Leben und am Ende hat er geschrieben ein kleines Buch für seinen Sohn, wie er leben sollte, weil er hatte gesehen in seinem Leben dass macht man etwas schlecht, dann kommt etwas Schlechtes zurück. Dieses Buch ist genannt Nemesis Divina. Göttlich Rache. Ja. Also es ist ein Problem, Systematiker zu sein. Ich kann zum Beispiel nicht eine Tapete sehen, ohne die Muster ausforschen, darum habe ich nur eine Farbe auf meinen Wänden in meinem Haus.

DIGAS    Sprecher 

Sie hörten: Der Katalog des Lebens – Zum 300. Geburtstag des schwedischen Naturforschers Carl von Linné.

CD 1/19    0:26    OT Deutsch Marietta Manktelow-Steiner

Alle sind Systematiker mehr oder weniger. Kein Mensch kann leben ohne Systematik. Man muss immer die Gläser in einem Platz haben, die Messer an einem anderen Platz, sonst wird man verrückt.

DIGAS    Sprecher 

Gestalter der Sendung war Lothar Bodingbauer. Gesprochen haben:

Nina Strehlein

         (VORNAME FEHLT) Strzowski

und Arthur Treinacher

Morgen in “Dimensionen – Die Welt der Wissenschaft”: Kulturgüterschutz, eine Sendung über Naturwissenschaft und Denkmalpflege.

068. Prozessphilosophie – eine Universalmethode?

Ein Portrait des Philosophen Alfred North Whitehead: Der Mathematiker, Logiker, Physiker und Philosoph Alfred North Whitehead hat 1929 mit seinem Opus Magnum „Process and Reality“ einen philosophischen Ansatz vorgelegt, der sich durch eine besondere Eignung zur interdisziplinär angelegten Forschung auszeichnet. Kann die Prozessphilosophie Whiteheads die Dynamik derzeit getrennter wissenschaftlicher Felder der Gegenwart vereinen? Eine Sendung anlässlich der 6. Internationale Whitehead-Konferenz (3. – 6. Juli 2006) in Salzburg.

Link zur Sendung in der Physikalischen Soiree PHS124

067. Physik im Hohen Norden

067. Physik im Hohen Norden

Foto: Radiarantenne (Eiscat radar) in der Nähe von Sodankylä, Finnland

Nordlicht, Klimawandel und die Physik der Kälte und Finsternis: Der hohe Norden ist für Physiker ein ganz besonders spannendes Gebiet. Den Nordlichtern auf der Spur verfolgen die Wissenschaftler mit Radaranlagen und Messraketen Erscheinungen der hohen Atmosphäre. Sie studieren das Magnetfeld im Norden Finnlands und beschäftigen sich nebenbei noch mit den Auswirkungen extremer Kälte auf den Menschen.

Link zur Physikalischen Soiree 123 | Manuskript (PDF) | Filename: radio067_physik_norden Sendung

Filename: radio067_physik_norden


Mauksript

01 Zitat Weyprecht 0:13

 

Um den Pol herum flimmern und flackern nach allen Seiten die kurzen Strahlen, in der Richtung nach dem Punkte in der Nähe des Zenits, gegen den der Südpol der freien Magnetnadel zeigt. Was wir sehen ist die Nordlichtkorona.

Sprecherin
Physik aus Lappland.

02 OT Samenfrau / Fuchsfeuer 0:18

Nordlicht heißt auf Finnisch Revontulet. Das heißt eigentlich Fuchsfeuer. Und nach Erzählung entstehen Nordlichter dadurch, dass ein Fuchs rennt am Himmel und aus dem Schwanz kommen dann diese Farben und dieses Feuer, und darum heißt es Revontulet.

Sprecherin

Nordlicht, Klimawandel, und die Physik der Kälte und der Finsternis.

03 OT Samenfrau / Winter 0:13

Und das ist auch nicht deprimierend, wie Menschen manchmal behaupten. Weil wir haben ja immer Schnee und Schnee, reflektiert von Mond, Sterne und Polarlichter, und das ist frisch und schön.

Sprecherin
Eine Sendung von Lothar Bodingbauer.

02 ATMO Fußgängerübergang 0:55

Hineinziehen in Sprecherin, kurz stehen lassen, dann Text:

Text Ort

Das sind die akustischen Signale eines Fußgängerübergangs auf einer Straße im Norden Finnlands – in Lappland. Jenseits des Polarkreises. Dieser Übergang auf der Straße nach Sodankylä zum Geophysikalischen Observatorium zeigt schon exemplarisch, wie die Wissenschaftler hier arbeiten: Signale werden gesendet, und das Echo zurück wird erforscht. Diese Signale werden natürlich nicht einfach über die Straße geschickt, sondern nach oben, (ab jetzt ATMO wegziehen) in den Himmel. Es sind elektromagnetische Signale – Radiowellen. Die Wellen werden in der hohen Atmosphäre zum Teil zurückgeworfen. – Dies gibt Aufschlüsse wie die Atmosphäre beschaffen ist. Dort wo das Nordlicht entsteht, wo Ozon die UV Strahlen filtert, wo die Sonnenstürme ankommen, und wo eine Vielzahl chemischer Prozesse das Leben auf der Erde beeinflusst. Die Physik im Hohen Norden Finnlands besteht zu großen Teilen aus dem Studium der Hohen Atmosphäre.

04 OT Esa / Star 0:05

Of course one basic key question is: we are living with a star.

Text Vorstellen

Wer die Erde verstehen will, muss zur Sonne schauen, sagt der Nordlicht-Spezialist Esa Turunen. Er ist einer der Wissenschaftler am geophysikalischen Institut in Sodankylä.

05 OT Esa / Solar 0:26

Übersetzung:

Wir leben mit einem Stern, der Sonne. Die Teilchen von der Sonne, die das Nordlicht bilden, brauchen 2, 3 Tage, um die Erde zu erreichen. Die Sonne ist also sehr nahe! Wir müssen deswegen lernen zu verstehen, was auf der Sonne passiert, und wie sich das auf die Erde auswirkt. Alles auf der Erde hängt von der Sonne ab, und wie sie sich benimmt.

Text Nordlicht Schlüsselstelle

Das Nordlicht nimmt eine Schlüsselstelle zwischen Sonne und Erde ein. Es ist tatsächlich eine Spur – nicht von einem Fuchs, wie es die Erzählungen der Samen beschreiben – sondern die Spur des Sonnenwinds. Wer sich also auf die Fährte des Nordlichts macht, wird die Sonne finden. Warum aber führt diese Spur in den Hohen Norden? Der allgemeine Ausdruck für das Nordlicht ist Polarlicht. Man könnte das Polarlicht daher auch im Süden finden, weil das Magnetfelder der Erde an beiden Polen auf den Boden trifft und zuvor noch durch die Atmosphäre führt. In den Auralen Zonen, in ringförmigen Gebieten, die sich wie zwei Heiligenscheine um die Pole erstrecken. Dort stößt das Magnetfeld durch die Atmosphäre, dort entsteht das Nordlicht, oder das Polarlicht, und diese Gegenden gilt es zu erforschen.

06 OT Esa / 60 Theorien 0:10

Übersetzung:

Als die ersten Wissenschaftler hierher kamen, hatten sie überhaupt keine Ahnung wie das Nordlicht entsteht. Es gab 60 Theorien, aber keine davon stimmte.

Text Weyprecht

Was Wissenschaftler nicht verstehen, versuchen sie zunächst einmal genau zu beschreiben. Wie Carl Weyprecht, Leiter der österreichisch-ungarischen Expedition zum Franz Joseph Land um 1870:

07 Zitat Weyprecht 0:40

Dort im Süden, tief am Horizonte, steht ein matter Lichtbogen… Langsam nimmt der Bogen an Intensität zu und hebt sich gegen den Zenit; er ist vollkommen regelmäßig. Es sind keine Strahlen darin zu erkennen. Höher und höher steigt der Bogen, in der ganzen Erscheinung liegt eine klassische Ruhe…. Noch steht er entfernt vom Zenit, und schon trennt sich ein zweiter Bogen vom dunklen Segmente im Süden ab, dem nach und nach andere folgen. Alle steigen dem Zenit entgegen… Über das ganze Firmament sind nun Lichtbogen gespannt, Es stehen sieben zur gleichen Zeit am Himmel!

08 OT Esa / Station 0:26

Übersetzung:

Die ersten Wissenschaftler kamen 1882, 1883. Sie errichteten währen des 1. Internationalen Polarjahres eine permanente Forschungsbasis hier in Sodankylä, am Rande der Auralen Zone. So weit im Norden wie möglich, wo die Zivilisation die Station noch versorgen konnte.

Text Nordlicht

Die ersten Wissenschaftler glaubten noch, das Nordlicht befinde sich auf 200, 300 Metern Höhe, und man könne es mit Radiowellen sichtbar machen. Diese Idee unterscheidet sich nur wenig vom Glauben, dass das Nordlicht kommt, wenn Krieg droht, oder wenn man bloß pfeift – so wird es den Kindern der Gegend erzählt.

Heute ist die Entstehung des Nordlichts in den großen Zügen wissenschaftlich erklärt. Sie ist mit der Aktivität der Sonne verbunden.

Nordlichter entstehen, wenn die Sonne impulsartig viele hochenergetische Teilchen zur Erde schleudert. Dieser Vorgang wird Sonnenwind genannt, er entsteht in Sonnenflecken. Schon Galileo Galilei hat diese Flecken mit seinem Fernrohr beobachtet. – Da es nun alle 11 Jahre besonders viele Sonnenflecken gibt, und alle 11 Jahre auf der Erde besonders viele Nordlichter, liegt der Zusammenhang mit dem Sonnenwind sehr nahe.

Schnelle Elektronen und Protonen werden im Sonnenwind mit 500 km pro Sekunde in den Weltraum geschleudert. Diese Teilchen werden vom Magnetfeld der Erde eingefangen, das dabei messbar verzerrt wird. Die Teilchen werden durch die Magnetfeldlinien zu den Polen der Erde transportiert. Bevor jedoch sie dort am Boden angekommen sind, durchstoßen sie die Atmosphäre, auf 100 bis 150 km Höhe. Die Atmosphäre beginnt zu leuchten: Das Nordlicht entsteht, die Aurora Borealis.

09 Zitat Weyprecht 0:25

Und wiederum eine andere Form. Im Süden liegt dicht über dem Horizonte ein schwaches Band, das wir kaum beachten. Auf einmal hebt es sich rasch… Kurze Zeit hält es sich stationär, da kommt plötzlich Leben hinein. Von Ost gegen West jagen lebhaft die Lichtwellen durch… Die Natur führt uns ein Feuerwerk vor, wie es sich die kühnste Fantasie nicht herrlicher zu denken vermag…

Text Farben

Die Farben des Nordlichts können unterschiedlich sein. Es kommt darauf an, welche Moleküle und Atome vom Sonnenwind getroffen werden. Meist ist es Sauerstoff der leuchtet, sein Licht ist grün oder auch rot. Stickstoff sendet ebenso rotes Licht aus, aber auch blaues Licht und violettes.

Nordlichter sind häufig.
In zwei von drei Nächten sind sie in Lappland zu sehen.

10 OT Esa / Prozesse 0:46

Übersetzung:

Heute wissen wir, was das Nordlicht ist. Das Nordlicht, das die Menschen sehen, ist aber nur 5% der Prozesse die wir in den Polarregionen in der oberen Atmosphäre haben. Der Grund, auch heute in diesem Gebiet hier weiter zu forschen ist: wir möchten wissen, was die globale Rolle dieser Prozesse in der Oberen Atmosphäre der Arktis ist. Jene Prozesse, die hier Polarlichter entstehen lassen: Haben sie auch eine globale Bedeutung? Zu welchem Ausmaß haben sie es? Zu welchem Ausmaß wird die gesamte Atmosphäre davon beeinflusst, und damit auf lange Sicht gesehen, auch das Klima auf der Erde?

Text Heute

Sodankylä ist eine kleine Stadt in Lappland mit etwa 10.000 Menschen. 50 fest angestellte Wissenschaftler und Ingenieure arbeiten dort, Geophysiker und Meteorologen. Sie forschen im Arktis Research Center einer Außenstelle der Universität Oulu, der Universität Lapplands. Das Arktik-Institut befindet sich von städtischen Einflüssen ungestört mitten im Wald, bei den Flüssen und den Seen.

Die meisten der anwesenden Menschen und Geräte beobachten die Umwelt: nach oben, nach unten, und nach allen Seiten. Gemessen wird mit vielen verschiedenen Methoden.

02 Atmo Ballonstart 0:27

5 Sekunden stehen lassen, darüber dann folgender Text; Atmo läuft aus

Text Wetterballon

Auf einer Lichtung im Wald werden Wetterballons gestartet, vollautomatisch, alle 4 Stunden, das ganze Jahr über. Sie werden mit Wasserstoff gefüllt, deswegen der Alarm für die Umgebung. Lautlos heben sie sich in die Luft und verschwinden schnell im Himmel. Ihre Messkapseln messen Druck, Temperatur und Wind entlang des Weges und funken die Daten zur Erde.
Die Wetterballons messen bis zu etwa 20 km Höhe. Von dort an übernehmen Satelliten.

11 OT Osmo / Vorstellen 0:07

I am Osmo Aulamo, I am Head of Satellite Operationas in Arctic Research Center here in Sodankylä.

Text Wolken

Wenn Osmo Aulamo zur Arbeit fährt, bewundert er oft die höchsten vorkommenden Wolken, auf 20 km Höhe. Über ihre Bedeutung für das Klima weiß er sehr genau Bescheid. Sie sind faszinierend und bedrohlich zugleich.

12 OT Osmo / Wolken 0:32

Übersetzung:

Das sind wirklich schöne und farbenfrohe Wolken am Himmel. Es sind aber genau jene Regionen der Atmosphäre, wo das Ozon zersetzt werden kann. Notwendig dafür sind kalte Temperaturen und Chlor, vereinfacht gesagt. Wenn Sie Chlor in diese Gegend hineinbekommen, können sie damit Ozon zerstören. Das passiert eben genau in der Stratosphäre, in diesen schönen Wolken.

Text International

Wo die Stratosphären-Wolken gebildet werden, ist es ausgesprochen kalt. Bis -80 Grad Celsius. Die Ozonzersetzung braucht genau diese tiefen Temperaturen. Doch nicht nur die Temperaturen bestimmen die chemischen Prozesse ab dieser Höhe, sondern auch die Einflüsse des Sonnenwinds. Die Messungen am Arctic Research Center in Sodankylä sind von internationalem Interesse.

13 OT Zede /Hassler 1:48

Übers ganze Jahr gerechnet sind natürlich Finnen hier. Aber momentan ist hier eine Kampgange, die hat den schönen Namen Sauna, eine Abkürzung für Total Ozonmessungen in Sodankylä. Da sind wir für 3 Wochen hier kommen Gruppen aus der ganze Welt aus Nordamerika und Europa. Mein Name ist Alexander Zede. Ich arbeite in Washington im Goddard Space Center. Bei der Nasa. Ich bin Atmosphären- wissenschaftler. Unser Interesse an dieser Kampgange ist, wir wollen Satellitendaten mit Bodendaten vergleichen, in hohen Breitengraden. Und bei niedrigen Sonnenständen, deshalb sind wir hier im Frühling. Der Grund dafür, dass wir diesen Ort ausgesucht haben ist, dass die Bodendaten und Satellitendaten stimmen nämlich unter diesen Bedingungen nicht gut überein. Deshalb hat man viele verlässliche Bodengeräte zusammengebracht, und aufgestellt und relativ viele Spezialisten versammelt, die dann sagen, das ist der beste Wert vom Boden, und wenn der Satellit immer noch andere Wert hat, ist es die Schuld vom Satelliten. — Birgit Hassler, ich bin vom Deutschen Wetterdienst, und wir messen hier Gesamtozon. Man spaltet das Licht von der Sonne in verschiedene Wellenlängen, eine in der Ozon stark absorbiert wird, und eine in der Ozon nicht absorbiert wird. Und wenn man vergleicht, kann man sagen, soviel Ozon ist in der Atmosphäre vorhanden. — Heuer sind wir über dem Durchschnitt. Die Ozonwerte, die wir gerade messen, sind 10 bis 20% über dem Werten der letzten 15 Jahre. Das ist eine Jahr-zu-Jahr Variation. Das hängt aber mit den Temperaturen zustande.

Text Ozon-Hoch

Das momentan gemessene Ozon-Hoch gibt aber noch keinen Anlass, die globalen Sorgen aufzugeben. Die Konzentration der Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe in der Atmosphäre gesamt ist zwar schon zurückgegangen, aber seit ihrem Verbot, in Kühlschränken verwendet zu werden, wird es noch Jahrzehnte dauern, bis das Ozon-Gleichgewicht der Atmosphäre wieder hergestellt ist.

Osmo Aulamo überwacht als Meteorologe auch die Ozon- Satellitenmessungen. Gomos heißt das System:

14 OT Osmo / Satellitenmessung 0:16

Übersetzung:

Wir messen zuerst mit dem Satelliten das Sternenlicht außerhalb der Atmosphäre, und dann durch die Atmosphäre durch. Es werden dabei gewisse Wellenlängen absorbiert. Und daraus kann man dann berechnen, wie viel Ozon vorhanden ist.

Text Ozongehalt

Die Messungen des Ozongehalts der Atmosphäre erfolgen von zwei Seiten: bodengestützt, und satellitengestützt. Die Vorteile der beiden Methoden werden kombiniert.

15 OT Osmo / Lokal 0:33

Übersetzung:

Wir können hier lokal Ozon messen, und das ist einer der wenigen guten Plätze dafür. Wir können aber nicht die gesamte Erde mit diesen Bodenmessungen abdecken, die wir brauchen für das Verständnis der Situation. Wenn wir nun die sehr genauen aber punktuellen Bodendaten mit den eher ungenauen aber dafür globalen Satellitendaten verbinden, dann können wir zwei Aspekte desselben Problems kombinieren und so ein ziemlich gutes Bild von der Situation erhalten.

Text Messen

Die Wissenschaftler in Lappland versuchen die Mechanismen und Gesetze der Vorgänge in der Atmosphäre zu erkennen. Alle zugänglichen physikalischen und chemischen Größen, die Bedeutung haben könnten, werden dafür gemessen: die meteorologischen Grunddaten, aber auch geophysikalische Größen:

RIO-Meter sind Messgeräte für den Einfluss kosmischer Strahlung; Imaging Riometer stellen die Ergebnisse auch bildlich dar, Ionosonden bestimmen die Höhen der verschiedenen Atmosphärenschichten, Radargeräte befassen sich mit dem Wetter, dem Weltraumschrott und der globalen Funkwellenausbreitung. Das Aardwark System heißt übersetzt Erdschweinsystem und ist ein weltweites Netzwerk zur Ortung von Blitzen. Eine All-Sky- Camera macht alle 10 Sekunden ein Bild des gesamten Himmels. Und weil das Erdmagnetfeld alle Einflüsse der Sonne und des Weltraums widerspiegelt – ist das Pulsation Magnetometer Network von besonderer Bedeutung. Es misst die Änderungen des Erdmagnetfelds. Sind sie hoch, gibt es Nordlicht – seine Sichtbarkeit ist eigentlich die einfachste Messung der Änderungen des Ermagnetfelds. Die genauen Messwerte lassen aber auch Rückschlüsse auf die Ursache des Nordlichts zu: das Weltraumwetter.
Die Magnetometer des Arktic Institute befinden sich abseits von Störeinflüssen in einigen Hütten mitten im Wald auf einer Lichtung. Esa Torunen erklärt, dass die Messanlagen nur unter besonderen Umständen betreten werden dürfen:

16 OT Esa / Gehen 0:25, Atmo bis 0:47

Übersetzung:

Wir können jetzt nicht hineingehen, weil wir alle so viel Eisen an uns haben. Die Brillen, in den Schuhen, in den Uhren. Auch ein Goldring hat noch zuviel Eisen drin. Unser Magnetmeister muss sogar die Damen bitten, die BHs auszuziehen, weil sie auch Eisen beinhalten.

OT wird zu ATMO, darüber folgender

Text Hütten

Nicht nur die absolute Stärke des Magnetfelds wird gemessen, sondern auch, wie sich das Magnetfeld verändert. Die Station ist Teil eines internationalen Netzwerks.

17 OT Esa / Hütten 0:47

Übersetzung:

Das größere Gebäude hier besteht aus zwei Hütten, ineinander geschachtelt. Es ist ein Meter Raum dazwischen. Früher wurde dieser Raum mit zwei Öfen geheizt, mit Feuerholz. Heute verwenden wir natürlich Elektrizität. Es muss die innere Hütte eine sehr gleich bleibende Temperatur haben. Früher, ohne Computer, machten wir die Magnetmessungen sehr herkömmlich. Man hatte einen Quarzfaden, einen Spiegel, einen Magnet im Faden. Man hatte Licht, und drei Meter Laufstrecke. Am Ende war ein Fotopapier, das sich langsam bewegte. Das zeichnete auf – und jeden Tag musste jemand das Fotopapier entwickeln. Darauf waren die Messwerte eingezeichnet.

Text Zeitreihe

Seit 1914 erfolgen die Messungen kontinuierlich. Eine unschätzbar wertvolle Zeitreihe entstand über die Entwicklung des Magnetfelds der Erde. Glaubte man ursprünglich damit nur das Nordlicht zu erklären, dient die Magnetfeld-Messreihe heute auch Studien über die globale Temperaturentwicklung.
Die Fotografien der Magnetmessungen haben den 2. Weltkrieg unbeschadet überstanden, nicht so die Bilder der Nordlichter.

18 OT Esa / Fotografien 0:27

Übersetzung:

Früher wurden die Nordlichter noch auf Glasplatten fotografiert. Am Ende des 2. Weltkriegs wurden aber hier leider diese Platten zerstört. Es explodierte der Kellner, alles flog in die Luft.
Schade, es muss wirklich gute Fotografien gegeben haben.

Wir hatten Deutsche Truppen hier, ganz Lappland war besetzt. Als sie zurückgeschlagen wurden, brannten sie alles nieder.

Text Geophysiker

Es sind die Geophysiker, die sich mit den Magnetfeldmessungen befassen. Ihr Forschungsgebiet beginnt im Boden. Zwischen 0 und 20 km Höhe messen die Meteorologen, und darüber, bis in den Weltraum hinaus, erstreckt sich wieder das Forschungsgebiet der Geophysiker.

Das Gebiet um Sodankylä eignet sich besonders gut für die Magnetfeldmessungen. Die Geschichte, warum gerade hier in

Finnland das Geophysikalische Institut gegründet wurde, ist ebenso speziell wie kurios.
Anfang des 17. Jahrhunderts kamen französische Wissenschaftler für ein Jahr, um zu messen, ob die Erde rund sei. Sie steckten, wo der Finnische Meerbusen endet, Dreiecke in die Landschaft, maßen und bestätigten: Ja, die Erde sei rund. 1 Jahr später gab es 200 Kinder mit französischen Vätern im Gebiet, und weitere 200 Kinder hatten finnische Väter, aber die Kinder sahen nicht finnisch aus.

Als dann anlässlich des Polarjahres 1882 Wissenschaftler anfragten, ob sie eine Forschungsstation errichten könnten, dort oben am Meer, leicht erreichbar durch Schiffe, lehnte die Bevölkerung dankend ab. Keine Wissenschaftler mehr. Diese wanderten landeinwärts, überwandten Rentierzäune, errichtet von Samen, die ebenfalls keine fremden Leute ertragen wollten, einer schwamm über einen Fluss mit einem Messgerät und stellte fest – ja, in Sodankylä gibt es den perfekten Ort für Magnetfeldmessungen. Wegen einer vierzig Meter dicken Tonschicht im Untergrund. So die Geschichte, wie sie Jirkki Manningen, Experte für das „Erschweinsystem“ – das Aadvark Netzwerk erzählt.

19 früher 20 OT Jirkki / Erdschwein 0:29

Übersetzung:

Das ist ein interessantes Tier. An unserem Observatorium ist das Very Low Frequency Network danach benannt. In Europa haben wir 4 – 5 Empfänger-Stationen. Die empfangen Signale von Sendern rund um die Welt. Hier haben wir gerade das Signal aus Hawaii bekommen. Damit können wir die Situation der Ionosphäre und der oberen Atmosphäre studieren entlang des Pfades nach Sodankylä.

03 Atmo Radio 0:30

darüber folgender Text

Das Pfeifen und Knistern der Mittel- und Kurzwellen im Radio wird von atmosphärischen Störungen verursacht, zumeist von Blitzen. Der Zustand der Atmosphäre ist für die Ausbreitungsbedingungen der Wellen verantwortlich.

Auch das Militär interessiert sich dafür.
Jirkki Manningen erzählt, was sonst mit den Daten passiert, die die Wissenschaftler sammeln: Sie sind für alle frei zugänglich im Internet abrufbar.

20 früher 21 OT Jirkki / Nutzer 0:53

Übersetzung:

Die meisten Nutzer unserer Daten sind Wissenschaftler. Aber daneben gibt es auch Anfragen zum Beispiel von der Forstwirtschaft. Zahlt es sich aus, dass sie eine Woche rausgehen, um Land zu vermessen, wenn es einen Magnetsturm hat, oder es Nordlicht gibt, und sie ihre Messungen danach wegwerfen können? Das ist viel Geld, da könnten auch wir etwas dafür verlangen. Wenn wir aber Leistungen verkaufen, dürfen wir die Bildungs-Lizenzen unserer Computerprogramme nicht mehr nutzen, wir müssen Geschäftslizenzen kaufen – das macht unsere Leistungen wieder teuer, und niemand kauft sie ein. Solange wir also die Daten kostenlos hergeben, gibt es kein Problem, aber wenn wir aber Geld dafür haben wollen, müssen wir die Lizenzänderungen berücksichtigen.

Text

Das Weltraumwetter schlägt sich auf das Erdmagnetfeld nieder. Wer es misst, kann Warnungen vor Magnetstürmen herausgeben, oder Weltraumwetterberichte, so wie diesen:

ZITAT Sprecherin

Eine Sonnenwind Schockwelle wurde gestern um 18 Uhr durch den ACE Satelliten am L1-Punkt aufgezeichnet. Die Geschwindigkeit des Sonnenwinds sprang von 450 auf 500 km pro Sekunde. Im Gegensatz zum vorhergehenden Event am 12. Mai ist die z-Komponente des Magnetfelds der Erde weitgehend im Norden geblieben. Geo- magnetische Konsequenzen blieben deswegen beschränkt. Die gestrige Schockwelle steht vermutlich in Verbindung mit der leichten vollen Halo CMD am 12. Mai.

Text

Sonnenwind oder Stürme kosmischer Teilchen bedeuten im Allgemeinen Gefahr für die Erde. Wenn nicht unmittelbar für die Menschen am Erdboden, dann doch Gefahr für viele technische Einrichtungen:

Sonnenwinde können Pipelines vorzeitig korrodieren, sie gefährden Passagiere und die Besatzungen auf Flügen über die Pole der Erde, sie sind tödlich für Astronauten auf Weltraumspaziergängen, Satelliten können durch sie Schaden nehmen und das GPS- Navigationssystem kann Abweichungen bekommen. Sonnenwind kann auch in Hochspannungsleitungen Überspannungen auslösen – Stromausfälle sind die Folge.

Das Ziel der Messungen in Sodankylä ist, computergestützte Modelle zu bilden, die mit der Wirklichkeit übereinstimmen: Welche chemischen Vorgänge laufen in der Atmosphäre ab, unter welchen Bedingungen? Wie ist die Energiebilanz? Verstehen wir die Verbindung von Weltraumwetter und dem Klima der Erde? Kennen wir die Gründe für Veränderungen? Wie wirkt sich die globale Erderwärmung auf die Atmosphäre aus? Was bedeutet das im Umkehreffekt für das Klima? Mit welchen Überraschungen ist zu rechnen?

Die Analysen der Messwerte stehen weltweit erst am Anfang. Die Modelle werden gebildet und wieder verworfen. Der Atmosphärenwissenschaftler Esa Torunen:

21 früher 19 OT Esa / Frust und Freude 0:40

Übersetzung:

Es ist für uns nicht sonderlich frustrierend, wenn wir eine lange Rechnung noch einmal machen, weil sie falsch war. Aber wir sind schon froh, und fühlen uns erfolgreich, mit kleinen Dingen: einfach, wenn wir ein neues Resultat bekommen. Wenn wir wissen, das hat vorher noch keiner getan. Oder wenn wir ein kompliziertes Computermodell machen, und wenn eine Figur dabei herauskommt, eine einfache getupfte Linie, und wir vergleichen sie mit den wirklichen Messwerten eines Satelliten. Und es ist ein perfektes Match, das macht uns doch sehr glücklich

Text Fragen

Suchte man anfänglich nach Erklärungen für die Entstehung von Nordlichtern, so stehen heute Umweltfragen im Mittelpunkt des Interesses. Insbesondere die Sonnenaktivität wurde bislang unterschätzt, und ihre Auswirkungen auf die Ozonschicht und den Energiehaushalt der Atmosphäre.

Die Ursachen und Wirkungen der Vorgänge in der Hohen Atmosphäre sind heute erst ansatzweise verstanden. Ganz geklärt sind sie noch lange nicht.
Was machen aber Wissenschaftler, wenn sie etwas noch nicht verstehen? Sie beobachten.

Und so sich die All Sky Kamera in Sodankylä alle 10 Sekunden ein Bild des Himmels macht, das via Internet für jeden sofort abrufbar ist, so machen sich auch jene die hier leben, immer wieder auf die Suche nach dem Nordlicht.

Wie auch Reeta und Jonna, zwei Schülerinnen aus Lappland: 22 OT Kind Reetta 0:22

Übersetzung:

Wir waren auf dem Berg Schlittenfahren und da waren solche Nordlichter, solche verrückten, die haben wir dann lang beobachtet. Wir hüpften vom Berg in einen Schneehügel, legten uns auf den Rücken und beobachteten die Nordlichter. Und plötzlich waren sie dann verschwunden.

23 OT Kind Jonna 0:14

Übersetzung:

Einmal war ich draußen im Freien und da war ein total schönes Nordlicht, das seine Form interessant verändert hat. Mein Papa hat gesagt, dass das eine Krone ist oder so was ähnliches. Und dieses Nordlicht hatte viele verschiedene Farben – und so ein schönes Nordlicht hatte ich vorher noch nie in meinem Leben gesehen.

24 OT Kind Reetta 0:18

Übersetzung:

Als kleines Kind habe ich mich auch oft über die Nordlichter gewundert und wie verrückt geschrieen: „Was sind die denn?!“ und dabei bin ich herumgerannt. „Was sind die eigentlich?“ zeigte ich lachend mit dem Finger auf sie, wie verrückt. „Was sind die, ich will sie berühren!“ Dann hat mein Patenonkel gesagt: „Das sind Nordlichter.“ „Wow“, sagte ich dann.“

25 Zitat Weyprecht 4 0:25

Doch schon ist alles abgeblasst. Mit der gleichen unbegreiflichen Geschwindigkeit, mit der es gekommen, ist es auch wieder verschwunden. Das war das Nordlicht des kommenden Sturmes, das Nordlicht in seiner vollen Pracht. Keine Farbe und kein Pinsel vermögen es zu malen!

Sprecherin

Sie hörten: Nordlichter, Klimawandel und Finsternis: Die Physik Lapplands. Eine Sendung von Lothar Bodingbauer.