Sebastian Mitterbauer: Portrait eines 15-jährigen mit ungewöhnlichen Interessen: Niemand in der Gegend kann so gut Kurrent wie Sebastian Mitterbauer. Wann immer ein alter Text mit den nicht mehr lesbaren Buchstaben auftaucht, wird Sebastian gerufen. Als 14-jähriger wurde er zum Experten für Haus- und Ortschroniken. In den Ferien räumt er das Gemeindearchiv auf. Vom spanischen Erbfolgekrieg bis hin zur jüngeren Geschichte erstreckt sich seine spezielle Welt.
Manuskript
CD Cut 1 (00:18) Trailer
Da kann ich selber etwas erforschen, was andere erforscht haben, und was noch nicht in die Öffentlichkeit gekommen ist. Da liegen Berge von Urkunden in den Archiven herum, die noch nie bearbeitet worden sind. Das ist sehr interessant, wenn man sich so etwas durchliest.
00:18 OT 1 Ausschnitt (60)
Wie ich noch in die dritte Klasse Volksschule gegangen bin, habe ich daheim nebenbei die Kurrentschrift gelernt, und habe mich immer weiter hineingelesen in die Urkunden. Manche Sachen sind nicht sehr schön geschrieben, aber ich versuche, dass ich sie trotzdem übersetze.
Wer immer sich in ein Gemeinde- oder Stadtarchiv begibt, taucht ein in eine Welt der längst vergangenen Zeit. Der Forscher wird belohnt – durch Geschichten und Begebenheiten auf die einen Reim zu machen sich heutzutage wenige verstehen. Die Chronik eines Ortes trifft viele Menschen und hinterlässt sonderbare Spuren.
N.N. begrüßt Sie bei Moment Leben Heute.
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Einer der wenigen, die eine Dorfchronik in alter Schrift und antiquierter Sprache lesen können ist Sebastian Mitterbauer. Er sortiert im oberösterreichischen Altheim die alten Dokumente dieser kleinen Stadt. Er sortiert Kassabücher und ordnet Urkunden. Sebastian ist 15 Jahre alt. Er, kaum noch auf der Welt, datiert und übersetzt die meist kurrent geschriebenen Dokumente des Ortes und seiner Umgebung ins heutige Deutsch. Hören Sie ein Portrait der ungewöhnlichen Interessen eines ganz normalen Schülers – von Lothar Bodingbauer.
Manuskript Beitrag (OT Länge 7:12)
00:22 OT 2 Kurrent lernen – Beispiel für Urkunde (61a)
Ich habe mich mit der Blockschrift in der ersten … und die habe ich dann halt nebenbei gelernt.
Sebastian überträgt zunächst einmal die Kurrentschrift in einen leicht lesbaren Computertext.
00:32 OT 3 Schreibweise, Zitat (61b)
Die Schreibweise von damals ist natürlich eine Katastrophe … Gewalt ich mich angenommen, verordnet gehaben.
Reich und schön – das, was heute Themen von Fernsehserien sind, wurde früher auf andere Weise abgehandelt: zum Beispiel in einem Erbrechtsbrief, den Sebastian gerade übersetzt.
00:30 OT 4 Lesen gelernt (62)
Es ist wahrscheinlich ein Erbrechtsbrief … Kunstschätze, oder einen Haufen Geld, das ist sehr interessant, wenn man sich so was durchliest.
Das Schreiben allerdings hat Sebastian schon wieder verlernt.
00:07 OT 5 Kein Brieffreund (63)
Weil ich keinen Brieffreund habe, den ich in Kurrent schreiben kann. Lesen kann ich es schon gut.
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Und das reicht auch völlig aus, um in der Geschichte des Ortes zurückzugehen. Sebastian verbringt viele Stunden im Gemeindearchiv von Altheim. In der Zeit zurückzugehen heißt für ihn zunächst, im Gemeindearchiv einige Schränke weiter nach hinten zu gehen.
ATMO 1 Archiv (64)
Vorbei an Flaschen mit seltsamen Inhalt, Gegenständen aus Holz, die heute längst keinen Namen mehr haben, weil sie keiner mehr kennt. Das Gemeindearchiv von Altheim sammelt nicht nur Schriftstücke, sondern auch wichtige Gegenstände des Ortes: Flachsrechen, Holzrahmen, Bilder, Kugeln, wer weiß wie sie heißen, wer weiß, wofür man sie spart.
02:13 OT/ATMO 6 Bierflaschen, Foltermethoden (65) – darüber auf Zeichen
Das ist ganz interessant, das sind alte Bierflaschen – Bresenhuberchronik … müsste ich in meiner Brauereichronik nachschauen.
Eine eigene Brauereigeschichte des Ortes hat Sebastian selbst geschrieben. Und so ist das Nachschauen ins geschichtliche Detail für hier nicht allzu schwierig.
OT/ATMO 6 hoch bis Ende:
… aber das ist Geschichte der Brauereien in Altheim.
Und sonst, selbst Chronik schreiben? Chronist zu sein? Das wäre zu viel, meint Sebastian, aber ein Tagebuch geht sich schon aus.
(00:39) OT 7 Tagebuch (66)
Ja ich schreibe nur was rein, wenn … so was wie Anne Frank, mache ich nicht, das ist mir zuviel.
Anne Frank, Schülerin, getötet während des 2. Weltkriegs durch Nazi-Schergen. Das ist neuere Geschichte, wie Sebastian in der Schule lernt. Er weist auf die Kästen links hinten im Gemeindearchiv hin.
(00:36) OT 8 3. Reich (67)
Da sind dann noch die Akten vom 3. Reich … dass man weiß wo man suchen muss, wenn man was sucht. (Geräusch).
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In vielen Land-Gemeinden wurden die Dokumente der Kriege vernichtet, Aufzeichnungen zu den Taten und Gesinnungen der Gemeindebevölkerung aus den Chroniken herausgerissen. Für Sebastian Mitterbauer ist es noch zu früh, das Kapitel „2. Weltkrieg und die Altheimer zu öffnen. Es seien einfach noch zu viele am Leben, die das betrifft.
Der Chronist als Verschlossener. Als Hüter der Geschichte. Was er findet und übersetzt, mag an die Außenwelt dringen. Was er verbirgt, bleibt wohl für immer verborgen.
(00:48) OT 9 Rauschige (68)
Da hat es einmal in der Fastnacht … aber es ist gut, dass es so etwas heute nicht mehr gibt.
Heute. Wieder zurück, hier und jetzt, erzählt Sebastian von seinen Berufsplänen. Er möchte Tischler werden. Heimatforscher möchte er bleiben. Als Nebenberuf.
(00:28) OT 10 Zukunft – Geschichte studieren (69)
Ich werde es sicher nicht so betreiben … die was schon warten drauf, dass sie wo reinkommen.
Sebastians Vater ist selbst an der Geschichte des Ortes interessiert, er hat seinen Sohn schon früh mitschauen lassen bei dem, was er tut.
(00:22) OT 11 Vater (70)
Und das hat mich einfach interessiert … Dokumente herumgelegen, das hat mich damals schon interessiert..
Eigentlich ist Sebastian Mitterbauer ein ganz normaler Jugendlicher. Vielleicht etwas restriktiv beim Fernsehen seien seine Eltern, meint Sebastian, deshalb spielt sich sehr viel im eigenen Kopf ab.
(00:09) OT 12 Normal sein (71)
Meine Hobbys wie Radfahren … nur dass ich einen Vogel habe für die Heimatkunde, das ist nicht ganz normal.