12. Wiener Riesenrad

Über 100 Jahre ist das Wiener Riesenrad alt. Eigentlich hätte es schon längst wieder abgerissen werden sollen. Aber noch heute ist es ein Pflichtausflug für jeden Wiener Firmling: Nach der Messe in den Prater und natürlich auch ins Riesenrad. Die Geschwindigkeiten der Reise nehmen im Prater üblicherweise zu: Sky Coaster schießen die Menschen mit 100 km/h in die Luft. Das Riesenrad jedoch dreht sich seit eh und jeh im Kreis: Mit etwas mehr als einem km/h. Eine Aussichtsfahrt in Kreisbewegung. Mit dabei sind neben den Verliebten jene Menschen, die das Rad im Kreise halten: Der technische Inspektor und eine Mitbesitzerin des Rades - das nebenbei bemerkt kein Rad ist - „Wiener Dreißigeck“ müßte es genaugenommen heißen. Im Beitrag zu erfahren sind auch Geschichten rund ums Rad und um den Prater.

Gestaltung: Ingrid Rachbauer, Lothar Bodingbauer

Ausschnitt (mp3)

9. Mit Veteranen nach Stalingrad

Die russische Stadt Wolgograd unterscheidet sich nur wenig von anderen russischen Städten. Ein Industriezentrum an der Wolga, fast 2500km von Österreich entfernt. Vor mehr als 53 Jahren hieß die Stadt Stalingrad, und Hitlers Wahnsinn hätte sie einnehmen sollen – auf dem Weg zu den Ölfeldern am Kaspischen Meer. Im August 1942 bricht die 6. Armee unter General Paulus aus ihren Stellungen am Donknie Richtung Osten auf. Stalingrad wird jedoch von den Sowjets gehalten und Paulus´ Soldaten werden eingekesselt. Am 2. Februar 1943 funkt eine deutsche Aufklärungsmaschine: „In Stalingrad keine Kampftätigkeit mehr“. Die 6. Armee hat kapituliert. Von 330.000 Soldaten der Deutschen Wehrmacht überleben 91.000 bis zum Beginn der Gefangenschaft. 5.000 kommen zurück. Stalingrad ist die psychologische Kriegswende. Vor kurzem gab es plötzlich in der Stadt, die sich geschäftig auf den Winter vorbereitet, für einige Tage 100 Fotoapparate, 40 Videokameras und 140 Österreicher mehr. Lothar Bodingbauer hat die Besucher auf eine Reise jenseits des Dons begleitet: Nicht Wolgograd heißt das Ziel, sondern Stalingrad.

Sendung (Version Deutschlandfunk/Sonntagsspaziergang) (mp3)

Manuskript 

„Die Veteranen“ – Eine Reise nach Wolgograd – Lothar Bodingbauer, Nov. 1995

Anmoderation

Die russische Stadt Wolgograd unterscheidet sich nur wenig von anderen russischen Städten. Ein Industriezentrum an der Wolga, fast 2500km von Österreich entfernt.

Vor mehr als 53 Jahren hieß die Stadt Stalingrad, und Hitlers Wahnsinn hätte sie einnehmen sollen – auf dem Weg zu den Ölfeldern am Kaspischen Meer.

Im August 1942 bricht die 6. Armee unter General Paulus aus ihren Stellungen am Donknie Richtung Osten auf. Stalingrad wird jedoch von den Sowjets gehalten und Paulus´ Soldaten werden eingekesselt.

Am 2. Februar 1943 funkt eine deutsche Aufklärungsmaschine: „In Stalingrad keine Kampftätigkeit mehr“. Die 6. Armee hat kapituliert.

Von 330.000 Soldaten der Deutschen Wehrmacht überleben 91.000 bis zum Beginn der Gefangenschaft. 5.000 kommen zurück. Stalingrad ist die psychologische Kriegswende.

Vor kurzem gab es plötzlich in der Stadt, die sich geschäftig auf den Winter vorbereitet, für einige Tage 100 Fotoapparate, 40 Videokameras und 140 Österreicher mehr.

Lothar Bodingbauer hat die Besucher auf eine Reise jenseits des Dons begleitet: Nicht Wolgograd heißt das Ziel, sondern Stalingrad.

Sendung

CD Musik

A OT

Und unsere Stadt ist natürlich eine schöne Stadt, weil sie liegt an der Wolga. Wir haben viele warme Zeiten, sehr gute Gemüse- und Obstsachen. Ich wünsche allen, daß sie so gute Wassermelonen und Paradeiser haben wie bei uns.

• CD kurz hoch

B Atmo Kriegsgeräusch  • CD wegblenden

A SPRECHERTEXT

Liebe Kameraden!

In einem Schützenloch. Die Nacht und den halben Tag ließ uns die russische Artillerie nicht zum Angriff kommen. Wir hocken stumm und frieren. Wir frieren Tag und Nacht. Überdies schneit es. Der Wind bläst uns die Kälte zu.

Es ist leicht, im Lehnstuhl Patriot zu sein. Aber wenn es in glasklarer Nacht nach schweigendem Marsch bei Störungsfeuer „Eingraben“ heißt und der Spaten sich durch gefrorenen Acker müht, da verflucht man wohl alles Mögliche. Nur Sturheit oder Wissen um die Aufgabe lassen all dies ertragen. Man denkt aber nicht mehr gerne; Denken macht unkämpferisch, besonders die Gedanken an Zuhause und das Leben verträumen einen.

Nur keine Weichheit! Nur jetzt nicht, wo alle Kräfte geballt sein müssen. Wir alle tun unsere Pflicht. Nur die Tat gilt noch.

Es ist ein Witz, wie im Film, im Buch. Aber ehern wirklich. ich schwöre es. Fast amerikanisch, jetzt zu schreiben, da ein Christ beten würde. Oh, wäre es nur sensationelle Angeberei, dieses Schreiben im Feuer. Lieber wäre ich ein kleiner Lügner, als Todeskandidat. Wenn alle Schreiben solche Vorlagen hätten, würde nur Echtes geschrieben. Doch was ist eine Brief, diese papierne intellektuelle Phase im Fronterlebnis.

Ihr seht, man ist Mensch, man ist Deutscher. Man muß sich besiegen, um zu siegen. Wohlan denn, wir halten die Waffen bis zum Siege! Ob heuer oder nächstes Jahr, was gilts, wenn das ewige Deutsche Reich entsteht.

  • B Atmo weg im Text

TEXT

Drei Tage später war er tot, Tod durch Herzschuß eines sowjetischen Scharfschützen. Tod durch das System, an das er glaubte. Er schrieb an die Lehnstuhlpatrioten zuhause, er hatte meinen Namen.

A OT 

Uns hat man gesagt, die Heimat verteidigen. Ja was sollen denn wir da herinnen die Heimat verteidigen. Die Russen haben sie verteidigt, die Russen waren gezwungen ihre Heimat zu verteidigen, aber doch nicht wir.

Atmo Flugzeug in letzten Satz

TEXT

Mit meinem anderen Großvater fuhr ich nach Stalingrad.

Und wir waren nicht alleine.

Letzte Anweisung an die 140 Veteranen und deren Angehörige im ersten Direktflug Wien – Wolgograd.

A OT & Atmo  • B Atmo weg

Und es ist auch nicht sehr sinnvoll, auf der Straße eingehängt das Panzerlied zu singen, das tut man einfach nicht, wenn man zu Gast ist, das habe ich damit gemeint, und ich bitte Sie, das zu berücksichtigen.  – I was net, was er da daherplaudert

  • A kurz rauf

TEXT

Jener Herr, der mir beim Einsteigen erzählt hat, er fliege jetzt nach 53 Jahren wieder nach Stalingrad, sitzt am Fenster und sieht wieder die Ebenen des Dons, dreht nervös die Daumen.

Was kann das nur für eine Reise werden? Ich sitze mit den Spendenbüchsensammlern im Flugzeug, die ich von Allerheiligen kenne.

Was sind das für Menschen? Ewiggestrige? Unbelehrbare? Geläuterte? Gebrochene? Menschen, die sich an vergangenen Heldentaten immer noch begeistern?

Was machen Veteranen, wenn sie wieder ins ehemalige Feindesland kommen? Dorthin, wo sie ihr anderes Leben überlebt haben?

B OT

Manche prahlen mit ihren Erinnerungen, die Veteranen, und denken nicht an die Kameraden, denn die haben mindestens genauso viel mitgemacht, eventuell noch mehr. Es ist keine freudige Erinnerung, sondern eine traurige und wir können sagen, daß wir froh sind hier zu sein und noch am Leben zu sein. Es kommt nicht darauf an, daß der Russe ihn nicht erwischt hat, sondern im Gegenteil, Gottseidank daß wir am Leben geblieben sind. Das ist ein Zufall, keine Heldentat und auch kein Erfolg von den Russen.

  • A weg, hörbar schnell

A OT

Ich möchte Sie sehr herzlich in Wolgograd begrüßen, ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt bei uns, und alles Beste. Ich werde Ihre Gruppe im Laufe des Tages betreuen, mein Name ist Elena…

  • A wird Atmo, dann weg

B OT

Mein Vater war da, der war bei der 297 Infanteriedivision. Er hat ein Leben lang erzählt, wie das war, und heute steht man da, als erwachsener Mensch und sieht das wie das war, man kann sich´s vorstellen, was die für einen Jammer gehabt haben, und Sehnsüchte nach daheim. Und die Leute sind wieder gut gewillt, was man jetzt gesehen hat, das ist doch was wunderbares. Und nur vor allem macht man das als Andenken, als Danksagung, der Vater ist gut heim gekommen, er sitzt jetzt im Rollstuhl, er weint halt immer bitterlich, wenn man jetzt davon redet, über Stalingrad. Gehst e mit a, ja!

A Atmo Verkehr

B OT

Wolfgang, i fahr mit der Polizei

C Atmo Polizeisirene

TEXT

Von der Polizei eskortiert rasen unsere 5 klapprigen Ikarus-Busse durch die Stadt. Ein beeindruckender Konvoi. Für jene in den Bussen, und auch für die Wolgograder draußen. Wir überfahren jede rote Ampel, sogar der Gegenverkehr wird angehalten. Die Stadtbewohner stehen am Straßenrand und staunen. Nicht wenige mit offenem Mund.

  • A/C Atmos im nächsten OT weg

B OT

Ich glaube schon, daß der Großteil die Hand reicht, wenn man ihnen normal entgegenkommt, von Mensch zu Mensch, das ist das Wunderbare, ganz wunderbar, beeindruckend.

  • B wird Atmo

A OT

Der Russe ist ja sehr kontaktfreudig und ein liebenswürdiger Mensch, das kann ich auch nur immer sagen, ich war schon ein paar mal in der Ukraine. Und sie sind uns überhaupt nicht aggressiv oder böse gesinnt. Und man würde gerne jemanden, der in Österreich unzufrieden ist, einmal ganz kurz nach Rußland schicken.

TEXT

Franz Rechberger war in Rußland. Er kämpfte als Jugendlicher in Stalingrad – und kehrte von Krieg und Gefangenschaft zurück.

A OT

Ich bin einer der wenigen. Es hat ja eigentlich von den Gefangenen nur jeder 20. überlebt. Ich habe keine Familie zuhause gehabt, das hat mir auch sehr geholfen. Heute zieht´s mich eigentlich schon dorthin, weil wir so viele nette Freunde auch unter der Zivilbevölkerung gefunden haben und speziell die Kontakte die wir seit mehreren Jahren haben mit unseren seinerzeitigen Gegnern mit den russische Veteranen in Wolgograd. Das ist jetzt schon der Hauptgrund.

  • B Atmo weg

A OT

ÜBERSETZUNG

Es freut mich sehr, daß die Österreichischen Veteranen hierher gekommen sind. Es gab die Zeit, da Deutsche und Russische Soldaten gegeneinander gekämpft haben. Und jetzt ist die Zeit der Versöhnung beider Seiten. Die Bevölkerung hat nicht gekämpft, sondern die Regierungen, die Politiker. Der erste Schritt zur Versöhnung ist, daß Sie zu uns als Gäste kommen.

B OT

Ich muß die Leistung von denen akzeptieren und respektieren. Es ist und bleibt zwiespältig. Innerlich zurück. Durch den ist mein Bruder umgekommen, das richtig zu produzieren ist äußerst schwierig. Das aufzuarbeiten. Das ist so schwierig. Wenn du selber jemanden hast, der gefallen oder vermißt ist. Man kann nicht so ohne weiteres darüber hinweggehen. Irgendetwas haftet da.

C Atmo Verkehr (OT abfangen)

TEXT

Es ist viel Zeit vergangen, und mit den Jahren trennt sich die Deutsche Wehrmacht wieder in Österreichische und Deutsche Soldaten auf.

A OT  • C Atmo weg

Also verhaßt sind ja wir von den Russen immer noch, es ist alleweil no so, ja, die Nemetzki. Aber uns Österreicher schauen sie doch anders an. Wir sind nicht der böse Mann. Die sagen heute noch, die Nemetzki. Die haben uns voll uns ganz angenommen. Wir haben eine Friedensbotschaft hergebracht, und die haben die angenommen.

Russe: Übersetzung

Wir unterscheiden sehr gut, zwischen diejenigen, die unsere Feinde waren und jenen, die unfreiwillig in den Krieg gehen mußten. Unsere Großmütter und Väter auf den okkupierten Territorien haben uns schon erzählt, wer sich wie benommen hat, wer unsere Frauen vergewaltigt hat, wer sich anständig benommen hat.

B OT

Ja, erschießen müssen habe ich müssen natürlich aufgrund des Befehls. Die Russen haben angegriffen, waren voll mit Wodka. Die 1.2. 3. Linie hinten, die Kommissare. Sie hätten uns überrannt. Mußten wir schießen.

TEXT

Den Opfern aller Schüsse soll gedacht werden, und so eilen wir von Kranzniederlegung zu Kranzniederlegung.

A Atmo Rosenkranz

B OT  • A Atmo auslaufen lassen

Ich war selbst Soldat, bin verwundet worden, kam in russische Gefangenschaft, und erst heute ist mir das bewußt, wenn man in Stalingrad ist, welches Glück wir dazumal gehabt haben, daß wir nach einiger Zeit einigermaßen glücklich nach Hause gekommen sind.

A OT

Wir haben in 2 Tagen 2/3 der Leute verloren, bei diesen Angriffen. Am 28. waren nur mehr 12 Leute vorne von der ganzen Kompanie. Der Essensträger am Abend ich kann mich noch gut erinnern, der ist zurückgegangen mit den vollen Essenskanistern von der Höhe 102 hinunter, wir haben ihm begegnet, er hat geweint. Was er hat? Ich trage das ganze Essen wieder zurück hat er gesagt, es ist niemand mehr vorne, der was zu Essen braucht.

C Atmo Kriegsgeräusch in letzten Satz

A SPRECHERTEXT

Es fällt anfangs nicht leicht, zum Sterben bereit zu sein. Allmählich gewöhnt man sich aber. Ein friedlicher Gedanke zerstört aber gleich alles. Nebenan Singen und Fluchen. Galgenhumor ist nicht die stilvollste Auseinandersetzung, wenn auch leichter, als ernst zu sein.

Die Phantasie wagt kaum, an neues Leben zu denken. Vermessenheit? Viel eher schließt man mit dem bisherigen Leben und tritt befreit an. Wie man sich bloß wichtig nimmt, und dann sieht man sie liegen, wächsern, bleich, zerfetzt, die sich einst auch wichtig nahmen.

A OT  • C Atmo weg

Es gibt keine Helden. jeder lebt gerne, es gibt Leute, die viel riskieren, es gibt Ängstliche. Aber Helden gibt´s keine.

B Atmo ins letzte Wort

TEXT

Wir stehen jetzt am Mamai-Hügel, auf der ehemaligen Höhe 102.

A OT & Atmo

Herrlich, herrlich, großartig. So was habe ich noch nie gesehen. Ganz gut. So was habe ich noch nie gesehen.

TEXT

Dieser Hügel hatte in der Schlacht um Stalingrad größte strategische Bedeutung. Wer in einnahm, beherrschte Stalingrad.

A OT

Die Höhe 102 hat vor dem 27. September so oft den Besitzer gewechselt, oft am Tag mehrere Male. Man weiß es nicht. Am 28. September haben wir tatsächlich die Höhe 102 mit den Wassertürmen eingenommen. Aber die Höhe 102 ist so groß, wir sind dort oben mit den Russen gelegen. Wir haben sie nicht vertreiben können von der Höhe 102.

TEXT

2500 Einschläge jeder Art sind hier niedergegangen  – pro Quadratmeter. Eigentlich hätte der Hügel eine Erholungszone werden sollen. Nach dem Krieg begannen die Bauarbeiten für eine groß angelegte Gedenkstätte. Von der Wolga herauf führt eine lange, breite Steintreppe, gesäumt von martialischen Steinfiguren sowjetischer Helden.

Ganz oben am Berg: die Statue Mutter Russland. 85 Meter ist sie hoch. Die junge Frau streckt ein Schwert steil nach oben, sie selbst sieht in die andere Richtung, ihr Gesicht durch einen stummen Schrei verzerrt. Realsozialistische Erotik, vermischt mit Blut & Erde.

A OT & Atmo  • B Atmo weg

Wann da die an Spitz gibt.

OT

Ein Cousin von mir, der um 3 Jahre älter war als ich, der muß da irgendwo liegen, seine Knochen, deswegen bin ich da. Um zu sehen, wo er seine letzten Stunden, oder sein junges Leben hergegeben hat. Eine Dankesschuld abzustatten, daß der krieg was grausames ist, und daß es nie wieder Krieg geben darf, zumindest nicht zwischen Völkern, die sich zivilisiert nennen. Die sollen das Hirn gebrauchen, und nicht die Fäuste.

  • A wird Atmo

TEXT

Jeder der österreichischen Besucher hat sein persönliches Anliegen. Von einem denke ich mir: Das ist aber jetzt einer der Unverbesserlichen mit wahnwitzigen Theorien, aber er wiederum unterhält sich in russischer Sprache mit jedem Portier, Polizist und Straßenhändler.

Die Definitionen verwischen sich, – und die Objekte unserer Vorurteile sind austauschbar. /

Russische Soldaten halten Ehrenwache. Im Stechschritt schreiten sie eine runde Halle ab, in deren Mitte ein ewiges Feuer brennt. Auf ihren Wände sind tausende Namen sowjetischer Gefallener eingemeisselt. Die Zahl der sowjetischen Toten wurde erst in jüngster Zeit bekannt: / Mehr als 1 Million sollen es gewesen sein.

C Atmo Schlucht

TEXT

Nur wenige Schritte weiter wurden künstliche Schluchten aufgebaut, versteckte Lautsprecher verbreiten eine beklemmende Stimmung.

Hier treffen wir einen Wolograder Schüler, der uns von nun an fast Tag und Nacht begleitet, er verkauft Souvenirs der alten Zeit. Tischgroße Landkarten um 5 Dollar, Orden, Abzeichen und Gegenstände, die er auf den Schlachtfeldern gesucht und gefunden hat.

A OT

Nicht viele Touristen besuchen Wolgograd. Das für Geschäft nicht gut. Wieviele Touristen  kommen ungefähr hierher? Das Problem mit Tschetschenien. 1991 viele Deutsche und Österreicher besuchen Wolgo, aber jetzt nicht. Was machen Sie hier? Ich lerne in der Schule 5 Jahre. und 7 Jahre Geschäft gemacht. Mit Touristen. - Das halb für Familie und halb für mich.

B Atmo Panoramamuseum • C Atmo weg

TEXT

Alles, was mit dem Krieg zu tun hat, wird im Panoramamuseum ausgestellt. Auch Kinderzeichnungen. Soldaten mit Blumen und  Kindern hinter dem Rücken, viel Blutiges, viel Stilles, aber auch viel Fröhliches.

Auf der Innenwand eines großen runden Raumes im letzten Stockwerk ist der Kampf um Stalingrad aufgemalt. Wahnsinn auf 360 Grad.

A OT

Erschütternd Kann ich nur sagen dazu. Erschütternd. Ja da sieht man also zusammengefaßt einen russischen Angriff auf die deutschen Stellungen. Wobei man sagen muß, der Maler hat versucht alles die ganze Schlacht an einem Tag und in einem Bild unterzubnringen. Dadurch ist es soviel. Des ist scheen

Des ist scheen. Aber Eindruck, was will ich sagen, ich war nicht da bei der Schlacht, aber die ist wunderbar. Und vor allem was die mitgemacht haben da… Sie schiessen ja selber wieder in Tschetschenien. Was soll man denn dazu sagen - Auch die Darstellung, und auch die Räume die hier verwendet wurden, ist ausgesprochen gut - Das dürfte der Mamai-GHügel gewesen sein. Und das ist natürlich noch viel dramatischer sowas, als ein Denkmal, das sagt dern Leuten nix. Wenn Sie hier die Schulklassen herführen, dann ist es schon wieder besser.

OT

Wo ist der Schutt hingekommen? Wann war der Aufbau von Stalingrad fertig? Vielleicht in 60er Jahren. - Und wo ist der Schutt hingekommen, Material von zerschossenem Haus - ist sehr viel wieder verarbeitet worden … Hier war alles kaputt, aber nach der Zerstörung kamen 80.000 Leute aus verschiedenen Städten des Landes - Verschiedene Teile sind in den Häusern wieder drinnen, nicht in Wolga.

B Atmo Führung

A OT

Es war eine sehr schwere, harte Zeit. Ich  habe erst viel später wieder lachen können. Ich war im Gesicht verkrampft.

Ich habe eigentlich nie geglaubt, daß ich jemals dieses Land betreten werde, nach Rußland fahren werde.

TEXT

Und so fahren sie nach Wolgograd, um das verlorene Lachen wiederzufinden. Doch daß diese Reise alles andere als heiter ist, zeigen die Gesichter der Veteranen. Fotografieren und Filmen, das hilft. Zu stark sind die Eindrücke der Erinnerungen im Kopf - und der Relikte, die auf den ehemaligen Schlachtfeldern herumliegen.

A Atmo Schlachtfeld

TEXT

In Petschanka etwa. Ein kleines Dorf außerhalb Wolgograds. Kein Baum, kein Vogel, nur weites Steppenland und eiskalter Wind, der über die Ebene fegt. Und Sand, der nach einem Regenguß freigibt, was im Boden ist: Schädelplatten, Bombensplitter, Oberschenkelknochen, Rückenwirbel. Gürtelschnallen, Taschenuhren, ein zerschossener Stahlhelm. Man muß nicht erst danach suchen.

C Atmo Gesänge • B Atmo weg

TEXT

Aus den Häusern des Dorfes kommen Kinder und Frauen, die sich zu den Gesängen des orthodoxen Priesters Alexeij immer wieder bekreuzigen.

Das war schon damals so, erzählt einer, damals, als sie in die Gefangenschaft gegangen sind, traten immer wieder Frauen aus dem Spalier  und machten über den Kriegsgefangenen das Zeichen des Kreuzes.

  • C Atmo kurz hoch

TEXT

Die Männer des Dorfes stehen am weitesten abseits, betrachten die Österreicher, die diesmal fotografierend, sammelnd, Kaffee verschenkend, betend und suchend in ihr Dorf gekommen sind.

Johann Kollmann kniet mit einer kleinen Gartenschaufel am Boden.

A OT

Ich habe mir Erde mitgenommen, vom Mamai-Hügel, und von da, jetzt geb ich sie wieder zurück. - Das ist von dort wo sie das letzte mal österreichischen Boden betreten haben. Im Brucker Lager ist die 297. ausgebildet worden. Die Erde ist von Bruck an der Leitha, die habe ich mitgenommen, von da nehm´ ich die Erde wieder zurück. Ich habe da Gläser zuhause, da habe ich von jedem Land immer die Erde mitgenommen.

A OT • C Atmo weg

Es liegen Italiener, es liegen Rumänen, es liegen Russen, es liegen unsere Österreichischen Soldaten und Deutsche. Ich habe für jeden dieser Toten ein Gebet gesprochen und ein Kerzerl angezündet. Und jetzt ist in meiner Seele ein bißchen Ruhe eingekehrt. Ich mach das für alle, die hier ihr Leben gelassen haben.

B Atmo Kinder

TEXT

In der Dorfschule, gleich nebenan, warten die Kinder. Und werden mit Kulis, Kaugummis und Fußbällen beschenkt.

Im Gang hängt ein Plakat - wie man mit Minen und anderen explosiven Fundgegenständen umzugehen hat, die rundherum da sind - wie auch die Kürbisse im Garten.

Ein kleines Mädchen ist noch alleine in der Klasse und möchte die Geschenke alleine in seiner Schultasche verpacken. Sie wird immer wieder von den hereinströmenden Besuchern beschenkt. Der Teddybär hat schon längst nicht mehr Platz. Ihr Gesicht zeigt ein verwirrtes, ungläubiges Staunen.  „Olga“ haucht sie zum x. mal auf die Frage, wie sie denn heiße.

Nur die junge Physiklehrerin will den Kaffee wirklich nicht mehr.

A Atmo Schule

B OT

Die Schule war sehr nett, haben sich sehr bemüht, mit den vorhandenen Mitteln das bestmögliche zu machen. Man sieht auch, daß die Lehrer noch sehr viel Autorität haben und auch die Kinder sind sehr lieb und schön gekleidet. Ich meine, sie haben sich sicher für uns den Sonntagsstaat angezogen. Aber die Bemühung zählt schon sehr viel. Und es ist wertvoll, wenn wir ein bißchen die Schule unterstützen, weil die Jugend die hier jetzt zur Schule geht, ist schon die nächste Generation, die den Krieg vermeiden kann.

OT

Und dann habe ich auch eine Kreide genommen und habe auf die Tafel geschrieben meinen Namen, das wurde auch von dem Mann, der uns verfolgte und Aufnahmen machte, fotografiert, habe geschrieben Schabler, habe geschrieben, damit die Kinder angesprochen: Vergeßt den Fußball nicht. Immer wieder Austria, Austria. Ich weiß Sport bringt die Jugend, Sport bringt die Menschen, und Sport bringt Frieden.   - Fußball ist Blödsinn, das ist das blödeste Spiel - Kinder vergeßt den Fußball nicht, immer wieder Austria, Austria, Austria.

TEXT

Ob die Kinder wissen, warum Besuch gekommen ist?

B OT

Daaa -

TEXT

Alles sei sehr schön gewesen - Die Österreicher hätten eine Gedenkstätte gebaut und sie seien hierher gekommen, um die Gefallenen zu ehren. –

Wie ein Heuschreckenschwarm sind wir über dieses Dorf hergefallen, nur eben nicht plündernd.

B OT

So, wir gehen jetzt zurück zu den Bussen  und dort werden wir Picknicken. Es werden die Pakete ausgeteilt. Sollte jemand keinen Appetit haben, könnt ihr das der Bevölkerung geben. Also auf zu den Bussen …

  • OT wird Atmo

TEXT

Beim nächsten mal werden die Österreicher nicht nur neue Schulbänke mitnehmen, sondern auch ein Denkmal. Die Reise der 140 Veteranen soll diesem Projekt auch menschliches Gewicht verleihen.

A OT

Wir gehen mit unserem Denkmal nach Petschanka. Petschanka ist jener Ort, der für uns Österreicher von Bedeutung ist, dort ist die 297 ID zugrunde gegangen. Mitten in dieses Gebietes hinein. Dort wo das Denkmal aufgestellt werden soll, war ein Friedhof, da hat der Volksbund die Toten ausgegraben und umgebettet. Und auf dieser Fläche, wo der Friedhof war, werden wir dieses Denkmal hinbauen. Das ist der Österreichbezug, der hier unmittelbar gegeben ist. Das wollte ich noch kurz ergänzen.

B OT

Wanns jetzt zum Krieg wieder kommt, haben wir Kleinen wieder nicht die Schuld, das sind die Großen, die Kapital draus schlagen wollen. Komm reich mir Dein Hand, wir wollen Frieden und Freiheit“, das habe ich auch auf Russische gesagt. Wenn das das russische Fernsehen noch zeigt, weiß ganz Rußland was wir da wollen überhaupt. Nicht, das will ich noch damit sagen, also wirklich, der Frieden soll an oberster Stelle stehen.

A Atmo Musik in letztes Wort

TEXT

Das mit dem Denkmal ist so eine Sache. Der erste Versuch, ein Österreichisches Kriegerdenkmal nach Wolgograd zu schicken, endete im Eklat. „Bitte um ewigen Frieden in russischer Erde für die hier gefallenen Soldaten aus Deutschland, Österreich und allen anderen Nationen“, so sollte die Inschrift lauten. Das war  selbst den Russischen Stellen bei Tauwetter zuviel. Der Schluß war nicht vermessen, daß mit den anderen Nationen eher die Verbündeten des Deutschen Reiches gemeint waren, als Russland selbst.

Mittlerweile haben die Initiatoren gelernt, das Personenkomitee 50 Jahre Stalingrad, mit Mitgliedern vom Minister bis zum Kardinal.

Die Gedankenlosigkeit wird nun korrigiert und mit sozialer Hilfe kombiniert.

Eine Wolgograder Studentin hätte nichts gegen ein Denkmal.

B OT

Übersetzung

Das würde wirklich gut sein. Es ist aufregend! Ich glaube, unsere Leute mögen das!

Meine Großeltern waren im Krieg, sie waren Soldaten, sie wird das sicher interessieren.

TEXT  • A Atmo weg

Im Juni 1996 wird es nun doch soweit sein, der Wolgograder Bürgermeister sagte zwar „Njet“, nicht bei uns, 30 km weiter stimmte der Bürgermeister des 500 Seelen-Dorfes Petschanka der Errichtung zu. Das aus Stahlplatten bestehende Objekt soll mit seinen zehn Metern Höhe einen Blickfang in der Steppe darstellen, und es wird sogar leben. Denn die Stahlplatten werden rosten - in rund 120 Jahren wird nach den Berechnungen nichts mehr davon übrig sein.

Peter Fichtenbauer ist Kurator des Personenkomitees 50 Jahre Stalingrad.

A OT

Der jetzige Text ist um einigen Nuancen geändert, hat aber nie eine andere Inhaltstendenz gehabt, als die, daß es einfach so ist, eine österreichische Initiative, daß allen Opfern von Stalingrad gedacht wird.

B OT

Mein Mitgefühl bezieht sich zum Großteil gegenüber meinen ehemaligen Feinden den Russen. Aber inzwischen ist mir - schon  während der Dienstzeit beim Deutsche Mitlitär die Erkenntnis gekomme, warum soll ich den Menschen erschießen, den ich garn nichgt kenn. Der vielleicht Frau und Kind hat. Ich war damals 20 Jahre alt. Diese Gedanken habe ich 1941 schon gehegt. - Applaus.

A OT

Ich muß noch hinzufügen, daß die Russen eigentlich die ersten waren, und vorzüglicher behandelt werden sollten, nicht daß man unsere drauf schreibt, sondern vorzüglich auch die russischen. Die haben wirklich einen Vaterlandskrieg geführt, und natürlich ist es ihr volles Recht und ihr Stolz, weil sie haben den Krieg nicht angefangen. - Was haben die angefangen - Na ja, das war eine militärische Strategie. Selbst wenn wir nicht einmarschiert wären, wäre Stalin einmarschiert, der hat schon Geheimbefehle erteilt, wenn man das Buch Oberst Socharow liest. Man hat den Grundtein zum 2. Weltkrieg schon im 1. gelegt. - Ja wissens, ich hab das ganze durchschaut. - Der was a weng denkt hat, der hätte damals schon sagen können, der krieg ist verloren, im 44. Jahr.

C Atmo Speisesaal (OT abfangen)

B OT

Für jemanden, der in Gefahr geraten wäre, in Bezug auf kriegerische Auseinandersetzungen etwas positiv daran zu finden, gibt es keinen besseren Kurort für diese Geisteskrankheit, als das Schlachtfeld von Stalingrad aufzusuchen.

A OT & Atmo

Die andern 11 Helden sind gefallen. Da hilft ihnen jetzt kein Denkmal nicht mehr. Kräht kein Hahn mehr danach.

  • C Atmo hoch

TEXT

Vor der Eingangstür des Speisesaals im Hotel, dort wo die Prostituierten mit der Hotelwache streiten, grüßt stumm der Deutsche Soldat. Symbolisch, in Form eines Stahlhelms mit sieben Einschußlöchern.

Drinnen begießen österreichische und russische Veteranen die neue Freundschaft mit Wodka und Champagner.

Es ist ein herrliches Bild. Unsere Österreicher, dazwischen die Russen mit all den Auszeichnungen, wie wir sie von der Sowjetzeit noch kennen.

B Atmo Strauß-Walzer

TEXT

Das Denkmal steht kurz vor der Errichtung. Und wenn ma jetzt noch die Reblaus spielen, dann hammas.

  • B Atmo hoch

TEXT

Die Veteranen sitzen mit ihren ehemaligen Feinden an einem Tisch und klopfen sich auf die Schultern. Jeder von ihnen hat gekämpft, und jeder weiß es noch.

A OT  • B Atmo weg

Dann muß ich noch etwas erwähnen. Das erste mal bin ich von der damaligen NKWSD verhört worden - welche Waffengattung, ich war bei der 297 Jägerdivision. Da frug er mich, welche Waffengattung, schweres Maschinengewehr. Da frug er mich „Skolka tschelowek strelati“. Heißt wie viele Menschen hast du erschossen. Ich habe darauf geantwortet: ich weiß es nicht, man kann´s ja nicht zählen. Da hab ich die erste  Ohrfeige bekommen. Die zweite war fällig, als ich gesagt habe, vielleicht 100. Dann habe ich nichts mehr gesagt, schweigend zugehört. Was ich gemacht habe, ich war Munitionsbeibringer dann habe ich 3. Ohrfeige bekommen.

B OT

Auf meinen Papa bin ich sehr stolz, auf meinen Papa bin ich sehr stolz, Vinzent Grisser, Ziehvater. - Weil er ein offenes und ehrliches Wort hat. Über die ganze Sache hier in Stalingrad. Ich hab den noch nie in meinem Leben einen aufrechteren Menschen gesehen. Ich bin ein Burgenländer. Aber was er nachgesagt hat, kann ich nur nachfühlen, was Sie gesagt haben - brauchst nicht Sie sagen, bist ein Kamerad. Vizeleutnant in Ruhe, nah is ja wurscht, …

A OT

Ich möchte noch sagen, das da draußen war so erdrückend, daß mir die Tränen gekommen sind. So ein weites Land ist Rußland wirklich. Die Hügeln und die Löcher, wo sich die Soldaten den letzten Schuß abgegeben haben, das habe ch so traurig in Erinnerung. Mir tut es nicht leid, daß wir diese Reise gemacht haben. Das war wirklich so beeindruckend, weil man hört Stalingrad, dort ist Krieg, man sieht´s auch in der Wochenschau hie und da no, aber wenn man es sieht. Es ist der größte Frieden., Die Wolga hier in Stalingrad äh Wolgograd. Man sagt oft, wenn man nach Wien fährt, muß man die Oper sehen. Wannst nach Rußland fährt, mußt Stalingrad sehen. Jeder der mit war, war die Reise das wert.

 B OT

Am besten man redet nicht immer, sondern man handelt richtig, daß man den Frieden gemeinsam hervorruft, da müßte man gemeinsam in Frieden leben

A Atmo Musik

TEXT

Gelegenheit zur Völkerverständigung finden die Veteranen in einem Kosakendorf. Mit Tanz, Musik und Wodka werden sie empfangen.

  • A Atmo hoch

B OT • A Atmo zart weg

Ich hab was Warmes gekriegt. Ja so halbwegs ist es gegangen.  Ja sicher die sind gastfreundlich, dahinten warnma, die haben uns soviel Wodka gegeben, das schier ist. Gesungen mit ihnen. Und Fotografiert haben wir soviel. Und die Buben so schön Pfeifen können, des is a Wahnsinn. - Ein sehr gutes Volk ist das. MIr als russischer Gefangener ist nicht mehr sowas untergekommen wie die Kosaken da.

Und witzig, witzig sind sie auch, und kann man ihnen reden über alles. Ich kann etwas Russische, und ich habe mit ihnen gesprochen. Die haben mich abgeküßt die jungen Frauen, des ist a Wahnsinn.

A OT

Brrrr - Die bringe ich nächstes Jahr nach Österreich, die ganze Gruppe. Kein Problem, keine Problem. - Die kleine Nase. und die kleine Nasen. Drei kleine Nasen.

C Atmo Musik

A OT

Ich hab keinen Film mehr, jetzt habe ich 36 Aufnahmen gemacht.

B OT  • C Atmo weg

Ich war vor 2 Jahren auch hier, und da habe ich mir ganz was anderes vorstellt, daß sie uns irgendwie belästigen. Nein, die sind uns entgegengekommen, dadurch habe ich sooo einen Zutritt und Vertrauen und Gemeinschaft. Ich habe damals die 5 Jahre Gefangenschaft weggesteckt.

OT

Mir ist die Gänsehaut über den Rücken gelaufen. Ich war an den Stellen, an denen ich im Eisatz war. - Haben Sie die Stellen wiedererkannt? - Ja, nicht genau, aber es stimmt. Ich habe auch ein Souvenir gefunden, einen Granatsplitter. Nach 53 Jahren den Platz sehen, wo man damals im Leid leben hat müssen.

(-) Schnittmöglichkeit

Von dort ist dann der Rückzug angegangen. Ich war in der Artillerienachricht, wir haben den Fernsprechwagen gesprengt, dann zurück durch die Balkas. Auf der Straße rein nach Stalingrad Süd. Immer mit einem Geschütz mit einem LKW von der Infanterie, das haben wir auch verloren, dann war´s nur mehr wilder Haufen, bis rein wo der Obelisk steht, zum Kaufhaus. Wir haben nicht gewußt, daß dort Gefechtsstand ist. In einen Keller rein, dann ist an der Stirnseite ein Funkwagen gestanden. Ein Lautsprecherwagen. Und das war die Rede von Göring. Die Aufgabe der 6. Armee. Und dann haben wir gewußt, was los ist .

A OT

Wir kennen ein gewaltiges heroisches Lied von einem Kampf ohne gleichen. Es ist der Kampf der Nibelungen. Auch sie standen in einer Halle von Feuer, aber kämpften bis zum letzten. Und jeder Deutsche wird in 1000 Jahren noch mit heiligem Schauer das Wort Stalingrad aussprechen und sich daran erinnern, daß dort der Stempel zum Endsieg gesetzt worden ist.

B OT

Und in der früh sind die Russen draussen gestanden, dann hieß es alles raus. Antreten. Die Russen haben gesagt, nichts passier Euch, ihr seid freie Menschen. Aber das war nicht wahr. Uns hat man die Uhren abgenommen. Am Schluß waren wir halt dann 2000 von 40000.

TEXT

Viele der Veteranen widerlegen auf dieser Reise das Klischee von Kriegsbegeisterung und kollektiver Unschuld. Auf der anderen Seite zeigen die Organisatoren der Reise durchaus ein gerüttelt Maß an Eigenwilligkeit, wenn es ihrem Vorhaben dient, ein Denkmal zu errichten. Bei unserer Ankunft in Wolgograd wurde die gesamte Führungsriege des Personenkomitees 50 Jahre Stalingrad von Limousinen General Rochnins erwartet, dem Kommandierenden der Kaukasusarmee, jener Armee, die in Tschetschenien einmarschiert ist. Der General sei ein Mann, der wisse, was Leben und Sterben heisse, bemerkte ein Vertreter des Personenkomitees. Es ist das Generalstabsmäßige, was irritiert.

Rezepte habe ich auf dieser Reise viele gehört, und manchesmal Verbitterung.

A OT

Die Menschheit ist genauso wieder verblendet, weil die Generationen nix dazu gelernt haben. Tut mir leid, daß man das sagen muß. Die Alten sterben ab, die Jungen wissens nicht, nehmen es nicht zu kenntnis. Wir sind in ihren Augen veraltert und verkappt, und verkalkt. Nach ihrer Ansicht. Die könnens nicht glauben, müssen wieder sowas erleben.

OT

Ich geh von Stalingrad weg mit einem fürchterlich schweren Herzen, ich glaube es wäre sehr gut, wen viele Leute herkommen und das mit eigenen Augen sehen. Die Wund ist nicht geschlkossen, die Erde blutet nach wievor. Wenn Menschen  Menschen hierherkommen mit dem innigen Wunsch ich muß das sehen, ich werde vioelleicht daduurch geläutert, ich werde fü den Frieden kämpfen, so gut ich es kann, ich vermag.

OT

Im Krieg ist es so, daß mit Semmelknödel nicht geschossen wird. Das ist die Härte des Lebens. Wie gesagt, wir kleinen Menschen können ja nichts dafür.  Ich sage immer wieder, aus der Not der Zeit ist die deutsche Nation geboren, wir haben ja den Geist rege haben müssen. Laßt endlich mal die Toten ruhen, das Zeitrad der Geschichte dreht sich weiter.

TEXT

Und a­uch das gibt´s zu hören. Friede sei erst, wenn der letzte Krieger gestorben ist. Ein geflügeltes Wort. Friede ist dann, wenn es auch für uns einfach ist - zu vergessen, zu verstehen, aber auch zu verdrehen. Zu vergeben haben wir ja in diesem Falle nichts.

Das letzte Wort den Veteranen - die Moral zum Schluß:

B OT

Die Gaunerei lebt, und der Ehrliche geht unter. Der Russe hat genauso draufgezahlt - Was steht uns heute noch bevor - Ich möchte sagen, man soll daraus lernen und klüger werden. - Ich habe das Gefühl, unsere Politiker haben uns schmählich verraten - Ja das auf jeden Fall, das auf jeden Fall!

ENDE

6. Braunau am Inn

6. Braunau am Inn

Foto: Lothar Bodingbauer, Braunau 2016

Programmtext

Eine Kleinstadt auf der Suche nach der Normalität: Adolf Hitler wurde in Braunau am Inn geboren. Wie es die Braunauer selbst heute mit diesem sensiblen Thema halten, darum geht es in dieser Sendung. Für die einen ist es unerwünschtes Erbe, sie wollen nicht mehr darüber reden. Für die anderen ist Braunau der ideale Ort fü eine historische Psychotherapie. Braunau am Inn. Eine Kleinstadt auf der Suche nach der Normalität.

Sendung (mp3)


Trailer

MITTAGSJOURNAL – Programmankündigung Journal-Panorama Braunau

Die fünfzig-Jahre Jubiläen häufen sich dieser Tage in Österreich und Deutschland.

Kommenden Sonntag vor fünfzig Jahren, am 30. April 1945, hat Adolf Hitler im Führerbunker in Berlin sein Leben beendet.

Dieses Leben mußte auch irgendwo beginnen, Adolf Hitler wurde in Braunau am Inn geboren.

Wie es die Braunauer selbst heute mit diesem sensiblen Thema halten, darum geht es im heutigen Journal-Panorama.

Für die einen ist es unerwünschtes Erbe, sie wollen nicht mehr darüber reden. Für die anderen ist Braunau der ideale Ort für  eine historische Psychotherapie.

Braunau am Inn. Eine Kleinstadt auf der Suche nach der Normalität. Heute Abend im Journal-Panorama, um ca. 18.20 im Programm Österreich 1.


Manuskript

BRAUNAU - Eine Kleinstadt auf der Suche nach der Normalität

April 95, ORF Radio Österreich 1: Journal-Panorama, 30 Minuten

Lothar Bodingbauer / Manuskript ohne letzte Korrekturen


C ATMO Radfahrer + Reportagetext

Viele Besucher erreichen Braunau auf dem Innradweg. Natur und Kultur an der Grenze zwischen Hüben und Drüben. Den verschwitzten Radlfahrer erwartet hier unter der Innbrücke eine Informationstafel. Sie erzählt vom Flair urbanen Lebens, vom Fluidum einer in Jahrhunderten gewachsenen Handelsstadt. Dem Innviertler an sich wird Arbeitsfleiß zugesprochen, und eine starke Heimatbindung, die durch eine geradezu barocke Lebensfreude ergänzt werde. Vom unglücklichen Buchhändler Johann Philipp Palm ist die Rede, der 1806 von den Franzosen erschossen worden ist, vom 100m hohen Stefansturm, von den Stadtmauern, von der freiwilligen Feuerwehr, von der Glockengießerei. Aber ist hier nicht auch… Wird hier nicht etwas verschwiegen?

A SPRECHERTEXT SPRECHER A

Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, daß das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies, liegt doch dieses Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint.

B TEXT

Adolf Hitler – mein Kampf

A OT Bahnhof

Bahnhof Braunau am Inn, Bahnhof Braunau am Inn. Nächster Anschluß: Triebwagenregionalzug nach Wels, Planabfahrt 15.31 vom Bahnsteig 2

Braunau – oder kenn´ ich das Wort nur, weil dort der Hitler geboren ist? Wahrscheinlich von dem.

C ATMO Innplätschern (in den letzten Satz)

B TEXT

Der Zufall wollte es, daß 17.000 Braunauer Bürger heute mit einem historischen Erbe leben, das nur wenige, aber doch einige erfreut. Am 20. April des Jahres 1889 wurde in ihrer Stadt Adolf Hitler geboren, und dafür ist der Name Braunau in aller Welt bekannt.

—ATMO weg im letzten Satz

A OT Mix

Adolf was born there – haha

Das mußten wir gut genug lernen in der Schule

Braunau – das liegt doch irgendwo an der Grenze, oder?

Ja, weil wir haben das früher oft genug gehört, wo er geboren ist, und das hat man sich gemerkt, und früher war unser Gedächtnis noch in Ordnung, darum weiß ich´s. Es zieht mich nichts dahin.

Naja, das ist immer so a eigene Sache, die was man heute, sagen wir, irgendwie schon, ich meine, nicht unbedingt vergessen, aber net das ganze wieder aufzeichnen.

+++ATMO Innplätschern hoch

B TEXT

Von der Sorge um die Vergangenheit abgesehen, gibt es in Braunau ganz andere Probleme. Die wirtschaftliche Situation ist mit der Krise der Aluschmiede AMAG nicht gerade gut, und dem Bau einer Sondermüllverbrennungsanlage kann die Bevölkerung absolut nichts abgewinnen.

Kultur- und Tagespolitik haben anscheinend nichts miteinander zu tun, für Wolfgang Simböck jedoch ist der einschlägige Ruf Braunaus mit der wirtschaftlichen Entwicklung verbunden. Das hat der mittlerweile verstorbene Politiker in einem Interview kurz vor seinem Tod so formuliert.

—ATMO endgültig weg

A OT Simböck

Denn Konzerne, in zunehmenden Maß internationale Konzerne, auch amerikanisch dominierte Konzerne werden, wenn sie sich ansiedeln, das Image betrachten. Sie müssen ihre Ware auch verkaufen, am Briefpapier steht der Standort Braunau, und deswegen müssen wir darauf achten, daß das ein guter Name ist, ein klangvoller Name. Und das ist unsere einzige Chance, diesem Namen einen guten Klang zu geben, wenn wir uns der Vergangenheit stellen, und was Positives daraus machen.

C ATMO Straße/Glocken

B TEXT

Begeben wir uns nun auf einen Braunauer Stadtspaziergang. Stadtbewohner und Gäste promenieren gemeinsam des Sonntags zwischen Straßencafés und geparkten Automobilen. Bunt sind die Fassaden der Bürgerhäuser – eine richtige Innstadt. 

A SPRECHERTEXT SPRECHER B

Die Straßen sind so sauber, als hätte man sie mit einem Shampoo gewaschen. Die Sonne scheint warm, die Kinder sprechen munter durcheinander, und die Erwachsenen lächeln. Es ist ein rührendes Bild.

B OT Besucher —ATMO leise

Ja, wir machen hier nur eine ganz kurze Stippvisite, wir sind in Bad Füssing, zur Kur, und machen dort einen Ausflug hier rum. Wir wollen erstmal hier kucken, wo das Geburtshaus ist, verstehen Sie, das wollen Sie gerne hören, das wollen Sie wissen, ne?

A SPRECHERTEXT SPRECHER B +++ATMO lauter

Und plötzlich schießt ein Gedanke durch den Kopf. Kann es denn wirklich sein, daß in diesem Paradies, wo Ruhe und Wohlstand herrschen, daß in dieser Stadt Hitler geboren wurde? Ist er wirklich diese Straßen entlang gegangen? Und hat hier die besorgte Mutter den kleinen Adolf hier an die Hand genommen? Ging er in diese Schule? Saß er wirklich auf dieser Parkbank? Großer Gott, was das Leben doch für Absurditäten bringt!

B TEXT

So schreibt Ilja Levitas über seinen Besuch in Braunau, er ist Vorsitzender des Zentralrates der Juden in der Ukraine.

Wir durchschreiten das Salzburger Tor und gelangen in die sogenannte Salzburger Vorstadt, wo es auf der linken Seite ein unscheinbares gelbes Haus mit der Aufschrift “Volksbücherei Braunau gibt”.

A OT Besucher —ATMO leise

Ist der da geboren, in dem Haus, ich denke, ich hätte mal ein kleines Haus gesehen in der Zeitung, aber das ist ein großes Haus!

Wir haben gefragt, prompte Antwort, ein jeder hat uns gesagt, da ist es. Da haben wir gefragt … warum nicht abgerissen? Na ja, es fällt ja so zusammen, habe ich gesehen.

B TEXT +++ATMO lauter

Die Braunauer selbst sind mit den Gegebenheiten vertraut. Oft wird man gefragt, wo das ominöse Haus zu finden sei.

A OT Mix —ATMO leiser

Äh, weil ma heut a Eis holn gehen, und da weiß ich genau, ein paar Schritte weiter, da ist das Hitlerhaus, und da steht der Stein davor. Da ist a Schrift drauf – Was steht da drauf? – Des weiß ich net.

I bin schon gefragt worden auch – ich sags ihnen halt, wos ist, und halte mich möglichst draus, weg wieder.

bin jetzt 36 Jahre da, und bin des öfteren gefragt worden, wo das Hitlerhaus ist, ich sags den Leuten, wer sichs gerne anschauen will, der soll sichs anschauen.

B OT Kotanko +++ATMO lauter

Als eingesessener Braunauer kenne ich seit vielen Jahren die mehr oder weniger versteckte Frage von Gästen, wo ist das haus. Nun, diese Frage kann eindeutig beantwortet dahingehend beantwortet werden: Das Haus steht hinter dem Mahnstein.

A MUSIK Avo Pärt

B TEXT +++ATMO lauter

“Für Frieden, Freiheit und Demokratie. Nie wieder Faschismus. Millionen Tote mahnen”. Das ist die Aufschrift auf dem Stein, Granit aus Mauthausen. Will jemand das Haus fotografieren, ist das Mahnmal mit dabei. Das ist durchaus beabsichtigt, gesteht Bürgermeister Gerhard Skiba.

A OT Bürgermeister

Es gibt zig Leute, die das Haus anschauen, die sollen in dieser Verbindung mit dem Anschauen mit dem Mahnstein und der eingearbeiteten Aussage konfrontiert werden.

B SPRECHERTEXT SPRECHER B

Hier hat der kleine Schicklgruber wohl über seinen Büchern gesessen? Nichts in dieser Stadt erinnert daran, daß hier dieser Unmensch, der den Menschen so viel Leid und Schmerz zugefügt hat, zur Welt gekommen ist. Man spricht hier nicht gerne über ihn Und nichts erinnert daran.

A OT Mix —ATMO leiser

I tät sagen, ein Andenken brauchens ihm nicht gerade machen.

Die sollen a Museum einimachen und a Ruh ist. Das kann man doch eh nicht leugnen, die Zeit war. Unten sollens a Restaurant einimachn, oben die Ausstellungen, und dann hat Braunau eine enorme Einnahmequelle. Dann brauchen die Leiter nicht mehr lange zu fragen, dann wissens, dort ist es.

— ATMO im nachfolgenden Text verplätschern lassen

B TEXT

Der Politologe Andreas Maislinger, als Einheimischer mit den Besonderheiten der Stadt und seiner Bürger vertraut, sieht eine andere Zukunft: Das Hitlerhaus soll weggerissen und etwas Neues gebaut werden.

A OT Maislinger

Obwohl dieser Vorschlag aus Israel gekommen ist, sehe ich schon die Schlagzeilen in der ganzen Welt: Braunau entledigt sich der Geschichte. Braunau will das Hitlererbe weghaben, will etwas leugnen. Das heißt, Braunau kommt von diesem Image nicht weg. Aber trotzdem. Wenn man das international absichert und breit diskutiert, das Haus ist Baufällig, es muß renoviert werden. Aber warum soll man gerade dieses Haus renovieren, also weg damit.

B TEXT

Fragen wir eine Amerikanerin, die die Altstadt interessiert, und die sie genau unter die Lupe nimmt. Wünscht sie sich mehr Informationen über Adolf Hitler hier in Braunau?

A OT Amerikanerin

ÜBERSETZUNG

Nein, nicht unbedingt. Ich glaube, daß sich die Leute hier irgendwie dafür Schämen, unglücklicherweise hat Hitler dieser Stadt einen schlechten Ruf gebracht. Er ist einfach hier geboren, das ist alles. Es gibt genug Informationen überall auf der Welt, über das, was mit Hitler war, und was er getan hat.

B TEXT

Es gibt in Braunau eine Handvoll Leute, die sich bemühen, dem rechtslastigen Ruf der Stadt und seiner Bürger entgegenzuwirken. Aber nicht allen Braunauern ist das ein Anliegen. Das zeigt sich an einem anderen Haus der Altstadt, nur ein paar Schritte vom Hitlerhaus entfernt. Anläßlich einer Fassadenrenovierung erschien dort ein Spruch, in dreißig Zentimeter hohen braunen Lettern, der heute zweifelhafte Assoziationen weckt und die Gemüter erhitzt.

A OT Besucher + Simböck

Am deutschen Wesen soll die Welt genesen – wo steht denn das? Was hat das für einen Sinn und Bedeutung? Was hat das mit Österreich zu tun? Ihr seid Österreicher und wir sind Deutsche, das ist der Unterschied.

B TEXT

Die Besucher aus Deutschland sind irritiert. Der verstorbene Kulturstadtrat Wolfgang Simböck fand die Aufschrift provozierend.

A OT Simböck ACHTUNG Pegel zu hoch

Diese Provokation, die meiner Meinung nach eine sehr arge ist, wenn man nämlich bedenkt, wo die Aufschrift herkommt, daß es Leute gibt, die ihre Angehörigen verloren haben, die von dieser Art des deutschen Wesens höchst beleidigt sein müßten, das ist ganz schlimm.

B TEXT

Auf der Suche nach der Bedeutung dieses Spruches, erzählt uns Hausbesitzer Ludwig Seidl, daß der Spruch nicht mißzuverstehen wäre, weil es ja kein politischer sei:

A OT Hausbesitzer + Simböck

Es trifft ja eigentlich … in dem Sinn soll es ja ein Genesenswunsch sein, und nicht eine politische Bestimmung, so wie das jetzt von den Medien in Verbindung gebracht wird. Es heißt ja, am Deutschen Wesen soll die Welt genesen, man erinnert sich an die Aufbauzeit nach dem Weltkrieg, und nachdem die Deutschen wirklich etwas hervorragendes geleistet haben, sollte das als Genesungswunsch ursprünglich auch verstanden worden sein, aber weil man heute schon Schwierigkeit hat, wenn man das Wort Deutsch oder Deutschtum in den Mund nimmt, verurteilen das halt viele.

– Dieser Hausbesitzer ist also eindeutig deutschnationalen Kreisen zuzuordnen, das bestreitet er zwar, aber ich weiß, daß er beim Österreichischen Turnerbund engagiert ist, also für mich ist die Sache ziemlich eindeutig.

B TEXT

Der sinnige Spruch wurde schon 1920 an der Fassade angebracht. Er ist im Laufe der Zeit bis zur Unkenntlichkeit verwittert. Glaubte man ursprünglich den Verfasser als Theodor Körner zu identifizieren, ist sich nun das Bundesdenkmalamt sicher, den Urheber in Emanuel Geibel zu finden. In seinem 1861 verfaßten Gedicht “Deutschlands Beruf” lautet die letzte Strophe:

A SPRECHERTEXT SPRECHER A

Macht und Freiheit, Recht und Sitte,

Klarer Geist und scharfer Hieb,

Zügeln dann aus starker Mitte

Jeder Selbstsucht wilden Trieb.

Und es mag am deutschen Wesen

einmal noch die Welt genesen.

B TEXT

Emanuel Geibel schrieb im Vorfeld des deutsch-französischen Krieges von 18640 eine Reihe patriotischer Gedichte und begegnete der aufkommenden Kriegsbegeisterung mit antifranzösischen Untertönen. Rechtliche Möglichkeiten, den Hausbesitzer zum “Überweisseln” anzuhalten, gibt es nicht, das mußte auch Bürgermeister Gerhard Skiba erfahren. Wolfgang Simböck fand auch, daß im Stadtamt selbst Fehler gemacht wurden.

A OT Simböck

Noch dazu kommt, daß ein äußerst unglücklicher, um nicht zu sagen verbrecherisch blöder Beamter der Stadtgemeinde nichts daran gefunden hat, als ihm der Spruch vorgelegt wurde, und gefunden hat, das sei in Ordnung, diesen Spruch so anzubringen, der sich irgendwie nur darum gekümmert hat, ob die Schrift auch ordentlich Frakturschrift sei, und Altstadtgerecht, und inhaltlich nichts daran gefunden hat. Meiner Meinung war das wirklich kriminell dumm.

B TEXT

Die Braunauer selbst sind geteilter Meinung, Gesetz den Fall, man macht sich darüber Gedanken.

A OT Mix

I was net, ob des draufghört oder net, sollen andere entscheiden, das ist meine Meinung.

Ja des is in Hausbesitzer sei Sach, und sunst geht des überhaupt neamt nix an.

Meiner Meinung nach, hinpassen tuts auf keinen Fall, weil in der Zeit samma nimma, wo des war.

Die Welt genesen, die hätts notwendig, daß die Welt genest, weil die ganze Welt eine Kloake ist – Durchs Deutsche Wesen? – Das einzige Wesen, das ich auf der Welt betrachte, ist der Mensch.

B TEXT

Sehen die einen eine Diskussion zu diesem Thema als unumgänglich an, glauben die anderen eher an eine Verschwörung.

A OT Mix

Ja von den Sozialisten gibts Probleme. Aber der Spruch ist schon weit älter, als es die Sozialisten überhaupt gibt. Sollen die Sozialisten erst einmal Geschichte lernen, dann wissens, was gemeint ist.

Und des is mei Meinung, daß die, die künstlich a böses Blut machen, die das künstlich aufputschen, böses Blut machen, oder von zur Zeit bestehenden Problemen ablenken.

B TEXT

Und überhaupt:

A OT Mann

Des is schon lang vorher gewesen, und warum sollen wir unsere Geschichte ändern, die schon lange vor Hitler gewesen ist. Mir san mir und des is immer scho gewesen, wurscht wer da auf die Welt gekommen ist oder nicht.

LIED: Oberösterreich – bist so sche – bist so rein – liabs schens Oberösterreich, dir bleib i treu.

B TEXT

Inzwischen ist es in Braunau wieder ruhig geworden. 

A OT Mann

Na ja, es gäbe viel zu erzählen, gäbe viel zu erzählen.

C ATMO Stadt

B TEXT

Die Fassade des renovierten Altstadthauses hält die Spuren der Kontroverse fest: Neben dem in brauner Farbe gehaltenen Spruch selbst, zieren große, schwarze Farbklexe, Hammer und Sichel die Fassade. Haus- und Spruchbesitzer Ludwig Seidl:

A OT Hausbesitzer

Jetzt ist es eigentlich relativ ruhig, es ist immer noch ein kleiner Teil, der möchte, daß des runter kommt, was genau passiert, kann man noch nicht sagen. Also wenn wirklich die breite Bevölkerung der Meinung wäre, es sollte der Spruch herunter, dann würde ich ihn wieder herunter geben.

B TEXT

Das normale Leben in Braunau unterscheidet sich wahrscheinlich nur unwesentlich von dem anderer Kleinstädte in sensiblen wirtschaftlichen Regionen. Nur, Adolf Hitler wurde eben in Braunau geboren. Wie man mit diesem Erbe umgehen soll, ob es vielleicht gescheiter wäre, das Ganze als einen Fauxpas des lieben Gottes zu sehen, und nicht mehr darüber zu reden, darüber besteht keine Einigung. —ATMO weg

Ein Versuch, die Vergangenheit in den Griff zu bekommen, sind die Braunauer Zeitgeschichte Tage, die seit drei Jahren immer im September über die Bühne gehen. In Diskussionsforen und Vorträgen werden Fragen nach dem richtigen Umgang mit dem sensiblen Erbe behandelt. Der Politologe Andreas Maislinger ist der wissenschaftliche Leiter der Braunauer Zeitgeschichte Tage.

A OT Maislinger

Das Thema der 4. Zeitgeschichte Tage vom 22. – 24. September 1995 ist der Fall Jägerstätter. Titel der Tagung ist “Notwendiger Verrat”. Für viele, die Mehrheit, ist Franz Jägerstätter ein Vaterlandsverräter, wie es auf den Kriegerdenkmälern steht. Hat seine Familie verraten.

Zum ersten Mal wird auf einer Breiten Basis über Jägerstätter diskutiert, es hat noch keine Debatte über Jägerstätter gegeben. Mit breiter Basis meine ich auch die Braunauer Bevölkerung, Bauern, aus St. Radegund und Wissenschaftler aus Israel, Deutschland und den USA. Das ist ja das reizvolle an den Braunauer Zeitgeschichtetagen, daß einfache Wissenschaftler mit normalen Leuten reden.

B TEXT

Fritz Muliar soll kommen, der Salzburger Weihbischof Andreas Laun, Fundis und Realos, Total-Verweigerer und Bundesheeroffiziere. 

Franz Mittermaier, Lehrer an der Handelsakademie und Freiheitlicher Vizebürgermeister sieht die Aktivitäten der deklarierten Verdrängungsgegner anders:

A OT Mittermayer

Ein Großteil der Bevölkerung ist diesen Sachen von Anfang etwas distanziert gegenübergestanden, weil man den Eindruck gehabt hat, daß mit diesen Zeitgeschichtetagen die linke Szene, die sehr aktiv ist, Politik machen will, sozusagen Politik der Umerziehung der Braunauer durch verordnete Vergangenheitsbewältigung, und dafür gibt es in Braunau wenig Verständnis, vor allem deswegen, weil wir die Erfahrung gemacht haben, nicht nur in Braunau, daß solche Aktionen der Vergangenheitsbewältigung ja doch immer wieder gerade dann, wenn sie von der linken Seit inszeniert werden, in irgendwelchen Schuldzuweisungen enden, und diese Sache lehnen wir eigentlich ab, weil wie ich schon gesagt habe, wir in Braunau nicht der Meinung sind, daß uns oder unserer Stadt eine besondere Schuld an den Ereignissen vor 50 Jahren treffen würde.

B TEXT

Die einen legen die Wunden der Vergangenheit offen, andere wollen sie endlich schließen. Es ist im Grunde die gleiche Problematik wie beim Tauziehen. Man zieht am selben Strang, aber nicht in die gleiche Richtung. Noch einmal Franz Mittermayer:

A OT Mittermayer

Und wenn der Bürgermeister sagt, und da komme ich auf das, ja das ganze ist eine Werbung für Braunau, da sind wir auch anderer Meinungen wir glauben, daß man mit diesen schrecklichen Ereignissen von damals keine Werbung betreiben sollte. Und wenn Sie fragen, was haben wir dem entgegenzusetzen, nun wir glauben, daß es vielleicht wichtiger ist, sich hier in Braunau mit der Gegenwart zu beschäftigen, mit den Problemen der Wirtschaft, der jungen Leute usw, damit ist es, glaube ich leichter möglich, die jetzige Demokratie zu festigen, und damit können wir besser sicherstellen, daß es zu so unheilvollen Entwicklungen wie das vor 50 60 70 Jahren geschehen ist, nicht mehr kommt. Und ich glaube, die Leute in unserer Stadt möchten lieber in die Zukunft schauen, weil dort die Probleme liegen. Na, wir haben uns bis jetzt zurückgehalten, wir haben uns distanziert von diesen Aktivitäten und das werden wir von den Freiheitlichen auch weiterhin tun.

B TEXT

Dem Evangelischen Pfarrer Peter Unterrainer sind die Vorwürfe der Freiheitlichen vertraut. Er ist Mitglied des Personenkomitees für Jägerstätter.

A OT Unterrainer

Es ist von seiten der Freiheitlichen Partei der Vorwurf gekommen, wir wollen mit Jägerstätter eine Konfrontation aufbauen mit der Kriegsgeneration hin, dieser Vorwurf war schon eine Bösartigkeit an sich und war natürlich taktisch auf die Kriegsgeneration ausgerichtet, die ja alles auf Verdrängung ansetzt, und hat schon eine breite Wirkung gezeigt hier in Braunau, sodaß zu den Veranstaltungen nur vereinzelt Menschen aus dieser Generation gekommen sind. Aber was wir wollen ist die Versöhnung mit der Kriegsgeneration, und die Versöhnung der Kriegsgeneration mit sich selbst.

B TEXT

Warum kann den dieser Jägerstätter die Menschen so polarisieren?

A OT Unterrainer

Dieser Jägerstätter hat nichts anderes gemacht, als…

B TEXT

In Braunau begegnen wir dem Phänomen, daß die politische Rechte schon weit auf der linken Seite beginnen kann. Als im Stadtparlament über den Vorschlag abgestimmt wurde, zu Ehren Franz Jägerstätters einen Brunnen zu errichten und eine Straße zu benennen, stellte sich auch die sozialdemokratische Partei gegen des eigenen Bürgermeisters Vorschlag. Punschkrapferlsozialismus nennt Pfarrer Unterrainer diesen Vorgang. Außen rosa, innen braun. Zuwenig Information, meint Bürgermeister Gerhard Skiba.

A OT Skiba

Es ist meiner Meinung nach, und das muß ich auch eingestehen, sicherlich zu wenig Aufklärungsarbeit betrieben worden. Einfach nur zu sagen, das ist eine gute Absicht, und wir möchten das machen, und wir können damit einen guten Dienst für Braunau zustande bringen, das ist offensichtlich zu wenig.

B OT Mix

Ich finde, daß dieser Jägerstätter durchaus eine umstrittene Person ist, er hat mit dem System, das damals geherrscht hat, eine Konsequenz an den Tag gelegt, ich finde das gehört gewürdigt.

Braunau hat mit Jägerstätter nichts zu tun. Der Jägerstätter hat eh alles genau kennt, der weiß eh, was mit ihm los war. Alles schad ums Geld. Der hat ja nichts gut gemacht, der hat sich nur aus Dummheit um Kopf und Kragen gebracht, mehr ist dazu nicht zu sagen, haha.

C ATMO Schule

A TEXT

Für Florian Kotanko, liegt die Problematik noch nicht bei den Akten. Er ist Lehrer am Gymnasium und Mitglied des Personenkomitees für Jägerstätter. 

B OT Kotanko

Das Personenkomitee wird nicht lockerlassen, sondern wir werden versuchen, Überzeugungsarbeit zu leisten, daß die Erinnerung an Franz Jägerstätter nicht ein Denkmal gegen jemanden ist, sondern ein Denkmal für jemanden ist. Es werden dadurch, daß man ein Denkmal für jemanden baut, ja nicht alle anderen abqualifiziert.

—ATMO weg im nächsten Satz

A TEXT

Und was macht die Braunauer Jugend. Gibt es eine linke Szene, gibt es rechte Umtriebe?

B OT Mix

Warn amoi a paar Hooligans da, aber das hat sich schnell verlaufen.

Ja die han überall

Da gibts eher a linksradikale Szene, habe ich das Gefühl.

(Jugendlicher) Geht mi nix an, i bin ka rechter und a ka linker. Pfft. geht mi nix an der ganze Schaas. Solln tun was meng.

A TEXT

Tatsächlich gibt es in Braunau keine eindeutig politisch zuordenbare Jugendszene. Abgesehen von Herumgröhlern, die im Rausch Parolen brüllen. Die eigentliche, intellektuelle rechte Szene befindet sich in der Nachbarstadt Ried, meinen einige Braunauer. Gelegentliche rechte Auftritte gibt es trotzdem. Auch Haus- und Spruchbesitzer Ludwig Seidl hat Beobachtungen gamacht.

B OT Seidl

Habe ich eigentlich noch nicht mitbekommen, auch wenn sich die rechten Jugendliche, wobei das eine gewisse Randerscheinung ist, in Braunau vor dem Hitlerhaus treffen; vor meinem Haus habe ich das gottseidank noch nicht bemerkt, und ich möchte es auch nicht.

A TEXT

Es tut sich für Jugendliche eigentlich nichts besonderes in Braunau.

B OT Jugendlicher

Schau es fangt schon beim Fortgehen an, die Möglichkeiten sind sehr begrenzt, Du mußt 30 bis 60 km fahren, damit du was machen kannst. Freizeitmöglichkeitn, das Jugendzentrum war nicht schlecht, gehen aber immer dieselben rein. So ist Braunau eher Scheißdreck, echt. Haha, stimma tuts.

C ATMO Gedenkdienstaktion

A TEXT

Es dauerte eine Weile, bis die Beschäftigung mit der belastenden Vergangenheit in Braunau normal wurde. Das Repertoire der Freudschen Abwehrmechanismen funktioniert auch im Innviertel ganz gut. Mittlerweile sehen die meisten der Braunauer die Aktionen der “Erinnerer” nicht mehr als einen Angriff auf die eigene Psyche. Immer wieder finden Aktionen statt, die sich mit der Aufarbeitung der Geschichte befassen. Wie beispielsweise vom Projekt Gedenkdienst, einer Einrichtung, der es österreichischen Zivildienstleistenden ermöglicht, sich mit der nationalsozialistischen Zeit und dem Holocaust auseinanderzusetzen. 

B OT Passantin

Mindestens drei Millionen Juden gehen zu Lasten der an den Verbrechen beteiligten Österreicher. Simon Wiesenthal – ist der Jude? (Heiterer Ausruf:) Möchts Euch jetzt in die österreichische Politik einmischen, ja ihr gehörts jetzt auch zu uns, die EGler. Jetzt haben die Österreicher nichts mehr zu sagen, Hahaha, jetzt gehts euch dran.

A TEXT

Jene Personengruppe, die die unrühmliche Vergangenheit dokumentieren will, ist sich aber noch nicht einig was genau dokumentiert werden soll. Den österreichischen Widerstand oder die österreichische Mittätersschaft. Der Politologe Dr. Andreas Maislinger bringt jedenfalls seine Aktionen gerne nach Braunau.

—ATMO weg

B OT Maislinger

Ich gehe davon aus, daß es genau der richtige Ort ist, um auf eine Tatsache hinzuweisen, daß Österreicher an einem besonderen Ausmaß an der Vernichtung der Europäischen Juden beteiligt waren. Daß man genau diese Tatsache dokumentiert. Und sonst nichts. Keinen österreichischen Widerstand, der wurde schon zu Genüge, ich meine immer mehr übertrieben dokumentiert, durch das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Ich möchte, daß in Braunau diese Seite aufgezeigt wird.

A OT Frau

Na, dieses Braunau, kommt ganz unschuldig dazu?! Hmhm. (Nachdenklich) Wir können ja nichts dafür. Ich bin trotzdem hier noch gerne.

B OT Bürgermeister

Für mich ist wichtig, daß soviel wie möglich Leute Einkommen, Lebensbedingungen haben, die dazu führen daß sie zufrieden leben können. Unzufriedenheit, Neid, Ärger und Zorn und was immer daraus entsteht, wenn man mit der eigenen Lebenssituation nicht zufrieden sein kann, das ist der Nährboden für viele solcher Entwicklungen.

A OT Simböck

Ganz wichtig ist es, daß die Leute die Möglichkeit haben, Kultur selbst zu machen.

C ATMO Clubhaus

B TEXT

Wir beenden unseren Stadtspaziergang in Bahnhofsnähe und hören durch die offenen Fenster eines kleinen Clubhauses die Verwirklichung des Wunsches, Kultur selbst zumachen.

—ATMO weg

A OT Liederkranz Probe

Wir sind die Chorgemeinschaft Liederkranz Braunau. Wir bestehen aus ungefähr 40 Mitgliedern und kommen jede Woche zusammen, um zu proben. Unser Programm ist eigentlich sehr vielfältig. Wir pflegen unter anderem das österreichische Volkslied als Teil unseres Repertoires, und das ist nicht als Patriotismus oder Nationalismus gedacht, sondern rein als Teil unseres Liedgutes. Wir sind politisch nicht aktiv. Wir sind eine Chorvereinigung, wir singen aus Freud am Singen, und das ist alles.

B Musik “Hörst Du das Lied der Berge?”

ENDE

3. Theophrast

Verleumder, Nörgler, Schmeichler: Eine Sendung über menschliche Unzulänglichkeiten und Schwächen des Alltags. Er war gewiss kein Moralist. Theophrast, Schüler, Freund und Mitarbeiter Aristoteles. Die leisen Fehlhaltungen des Durchschnittsmenschen interessierten ihn mehr als schwerwiegende moralische Defekte und Laster. In seinen "Charakteren" weist er mit leisem Spott auf Nebenwirkungen hin, die für den Charakter unbequem sind und malt mit Behagen die lächerlichen Begleitumstände aus.

Sprecher: Klaus Höring, Musikauswahl: Alfred Rosenauer

Sendung ohne Musik (mp3)

Hinweis: Die Musikstücke wurden hier für das Archiv entfernt, sie waren aber ein wesentlicher Teil der Sendung.


Manuskript

VERLEUMDER, NÖRGLER, ABERGLÄUBISCHE
Der griechische Philosoph Theophrast über kleine menschliche Schwächen und Fehler des Alltags.


Er war gewiss kein Moralist. Theophrast, Schüler, Freund und Mitarbeiter Aristoteles. Die leisen Fehlhaltungen des Durch-schnittsmenschen interessierten ihn mehr als schwerwiegende moralische Defekte und Laster. In seinen "Charakteren" weist er mit leisem Spott auf Nebenwirkungen hin, die für den Charakter unbequem sind und malt mit Behagen die lächerlichen Begleitumstände aus.

"Man wird gewiß die Durchschnittsmenschen nicht schelten, denn ihnen fehlt die Freiheit, ihr Leben zu gestalten. Dagegen ist es schon recht, diejenigen zu tadeln, die zwar als wirklich freie Menschen aufwachsen und hinreichend Mittel haben, die ihnen erlauben, zu jeder beliebigen Lebensform zu gelangen, aber trotzdem den höchsten Wert außer Betracht lassen. Hat man den falschen Weg eingeschlagen, ist der Schaden groß und die Umkehr schwierig, mehr noch, sie ist fast unmöglich. Die Natur des Menschen faßt zwar noch Vorsätze und beurteilt anderes für besser, aber sie lebt im Gewohnten weiter."

DER »SCHMEICHLER«

Unter Schmeichelei versteht man wohl ein schändliches Benehmen, das dem Schmeichler nützt; der "Schmeichler" aber ist einer, der jemanden begleitet und sagt: "Merkst du, wie die Leute auf dich schauen? Das passiert keinem in der Stadt außer dir. Man lobte dich gestern in der Halle." Bei diesen Worten entfernt er ein Fädchen vom Mantel, und wenn durch den Wind ein Hälmchen ins Haar geriet, putzt er es weg und sagt lachend: "Weil ich dich zwei Tage nicht getroffen habe, hast du den Bart voll grauer Haare, und doch hast du für dein Alter noch schwarzes Haar wie kaum ein anderer." Und wenn »er« etwas sagt, befiehlt er den anderen zu schweigen, er lobt ihn, wenn »er« es hört, den Kindern kauft er Äpfel und Birnen und wenn »er« es sieht, gibt er ihnen einen Kuß und sagt: "Einen guten Vater habt ihr Kleinen." Er geht mit ihm Schuhe kaufen und sagt, »sein« Fuß sei harmonischer als die Sandale. Und er sagt »sein« Haus sei ein schöner Bau, »sein« Land sei schön bestellt und »sein« Portrait lebensecht.

DER »FLEGEL«

Es ist nicht schwer, die Flegelei zu definieren, sie ist ein auffälliges, anstößiges Scherzen; der "Flegel" aber ist einer, der auf offener Straße vor anständigen Frauen seinen Mantel hochhebt und ihnen seine Blöße zeigt. Im Theater klatscht er, wenn die anderen aufhören, und pfeift die Darsteller aus, die die übrigen gerne sehen. Und wenn das Theater still ist, richtet er sich auf und rülpst, damit sich die Zuschauer nach ihm umdrehen. Wenn der Markt voll ist, geht er zu den Nuß-, Myrten- oder Fruchtständen, stellt sich daneben und nascht, während er mit dem Verkäufer schwatzt. Sieht er jemanden irgendwohin eilen, hält er ihn auf. Hat einer gerade einen großen Prozeß verloren und verläßt das Gericht, geht er auf ihn zu und beglückwünscht ihn. Und er geht in eine Barbierstube oder eine Parfümerie und erzählt, er wolle sich betrinken.

DER »UNGELEGENE«

Die Ungelegenheit ist ein zeitliches Zusammentreffen, das für die Betroffenen peinlich ist; der "Ungelegene" aber ist einer, der zu einem, der keine Zeit hat, geht, um sich beraten zu lassen. Seiner Geliebten macht er den Hof, wenn sie Fieber hat. An einen, der in einem Bürgschaftsprozeß verurteilt worden ist, wendet er sich und fordert ihn auf, die Bürgschaft für ihn zu übernehmen. Soll er Zeuge sein, ist er zugegen, wenn der Fall schon entschieden ist. Zur Hochzeit eingeladen, klagt er das weibliche Geschlecht an. Einen, der eben von einem weiten Weg zurückkommt, lädt er zum Spaziergang ein. Wenn jemand zugehört und verstanden hat, steht er auf und erklärt es wieder von vorn. Wenn ein Sklave ausgepeitscht wird, tritt er hinzu und erzählt, daß einst sein eigener Sklave sich erhängte, als er so geschlagen wurde. Und wenn er tanzen will, greift er sich einen, der noch nicht berauscht ist.

GEDANKEN: VERLEUMDER, NÖRGLER, ABERGLÄUBISCHE
Der griechische Philosoph Theophrast über kleine menschliche Schwächen und Fehler des Alltags.

"Das Verhalten der freien Menschen ist doch wahrhaft widersinnig. Wenn ihnen die Wahl freisteht, wählen sie sich zum Wohnsitz die angesehenste Stadt und zu Freunden und Hausgenossen die besten Menschen. Wenn es ihnen aber freigestellt ist, als Lebensform die beste zu wählen, schätzen sie dies als gering ein und erledigen ihre ureigenste Angelegenheit ganz nach Zufall, ohne überhaupt zur Prüfung und kritischer Sichtung zu kommen. Wenn sie jedoch eine Reise unternehmen müssen, dann ziehen sie bei anderen Erkundigungen ein und suchen einen Führer, mit dem sie die Fahrt ungefährdet machen können. Aber über das ganze Leben werfen sie, wie man so sagt, Würfel, und ohne sich mitzuteilen, verfallen sie auf die Lebensform, die der Zufall will.

DER »UNAUFRICHTIGE«

Unaufrichtigkeit ist wohl die Anmaßung einer negativen Auslegung von Taten und Worten zum Schlechteren; der "Unaufrichtige" aber ist einer, der mit seinen Feinden, wo er sie trifft, zu reden und nicht ihnen seinen Haß zu zeigen pflegt. Er lobt sie ins Gesicht, die er heimlich angegriffen hat, und äußert sein Mitgefühl, wenn sie im Prozeß unterlegen sind. Er übt Nachsicht gegenüber denen, die schlecht von ihm reden, mit Leuten, die Unrecht leiden und verärgert sind, spricht er sanft. Nichts von dem, was er gerade macht, gibt er zu, sondern sagt, er überlege noch; tut so, als sei er eben erst gekommen, habe sich verspätet, sei krank. Und überhaupt pflegt er solche Redensarten zu gebrauchen wie: "Glaube ich nicht", "Begreife ich nicht", "Ich bin erschüttert", "Du sagst, er sei anders geworden", "Dies hat er mir nicht erzählt", "Die Sache erscheint mir paradox", "Ob ich nun dir mißtrauen, oder jenem Unrecht geben soll, ist mir nicht klar", und: "Sieh nur zu, daß Du nicht rasch Vertrauen schenkst!"

DER »ABERGLÄUBISCHE«

Der Aberglaube erscheinnt natürlich als Feigheit vor dem Übersinnlichen; der "Abergläubische aber ist einer, der sich nach der Begegnung mit einem Leichenzug die Hände wäscht, mit Tempelwasser besprengt, ein Lorbeerblatt in den Mund nimmt und dso den ganzen Tag umherwandelt. Wenn eine Maus einen Mehlsack angefressen hat, geht er zum Zeichendeuter und fragt, was zu tun sei, und antwortet dieser, er solle ihn beim Sattler flicken lassen, so achtet er nicht darauf, sondern kehrt heim und bringt ein Opfer dar. Er ist weder bereit, an ein Grab heranzutreten noch an eine Leiche, noch an eine Wöchnerin, vielmehr sagt er, es sei ihm förderlich, sich nicht zu beflecken. Und trifft er einmal einen Knoblauchbekränzten, wie man sie an Wegkreuzungen sieht, geht er heim, badet von Kopf bis Fuß, ruft nach einer Priesterin und läßt sich mit einer Meerzwiebel oder einem jungen Hund reinigen. Sieht er aber einen Geisteskranken oder einen Epileptiker, erschrickt er und spuckt in die Falten seines Gewandes.

DER »NÖRGLER«

Die Nörgelei ist ein unziemliches Tadeln der Gaben, die man erhalten hat; der "Nörgler" aber ist einer, der einem Freund, der ihm eine Portion gesandt hat, durch den Überbringer sagen läßt: "Den Löffel Suppe und den Tropfen Wein hast du mir mißgönnt und mich darum nicht zum Mahle geladen." Wird er von der Freundin geküßt, sagt er: "Ich würde gern wissen, ob du mich auch von ganzem Herzen liebst". Auf Zeus ist er böse, nicht weil es regnet, sondern weil es zu spät regnet. Findet er auf der Straße einen Geldbeutel, sagt er: "Einen Schatz habe ich freilich noch nie gefunden." Nach langem Feilschen mit dem Händler hat er einen Sklaven billig erstanden, aber er sagt: "Ich würde gerne wissen, ob das etwas Rechtes ist, was ich so billig gekauft habe." Zu dem, der ihm die frohe Nachricht bringt: "Ein Sohn ist dir geboren!", sagt er: "Füge hinzu: die Hälfte des Vermögens ist hin. Das ist erst die Wahrheit!"

DER »TAKTLOSE«

Die Taktlosigkeit ist der Definition nach ein Verhalten, das Unbehagen ohne direkten Schaden verursacht; der "Taktlose" aber ist einer, der hineingeht und einen, der eben eingeschlafen ist, weckt, um sich mit ihm zu unterhalten. Wer gerade abfahren will, den hindert er daran. Beim Essen erzählt er, er habe Nieswurz getrunken und sich von oben bis unten gereinigt, und schwärzer als die Sauce auf dem Tisch sei in seinem Stuhl die Galle gewesen. Über sich selbst sagt er, er sei an angenehmer und ein unangenehmer Mensch, aber einen Menschen zu finden, der beide Eigenschaften hat, sei schwierig. Und kühles Wasser gebe es bei ihm in der Zisterne und im Garten viel zartes Gemüse und einen Koch, der das Essen wohl bereitet, und sein Haus sei ein Gasthaus, nämlich stets voller Leute, und seine Freunde seien das Faß ohne Boden; denn obwohl er gefällig sei, könne er sie nicht füllen.

DER »VERLEUMDER«

Die Verleumdung ist ein Hang der Seele zu üblem Gerede; der "Verleumder" aber ist einer, der auf die Frage: "Wer ist der und jener?" mit einem Katalog wie die Genealogen antwortet: "Zunächst will ich mit seiner Herkunft beginnen. Der Mann selbst ist, wie bei solcher Abstammung üblich, ein Taugenichts, ein schlechter Mensch". In seiner üblen Gesinnung sagt er zu einem: "Ich kenne mich doch aus. Da kannst du mir nichts vormachen." Dazu gibt er Details: "Frauen dieser Art reißen die Passanten von der Straße weg mit sich fort", und "Dieses Haus ist eines, wo man die Schenkel hebt! Das ist kein Witz, wie man sagt, sondern wie die Hunde auf der Straße treiben sies!" und "Kurz gesagt, Männerfallen!" und "Persönlich tun sie an der Haustür Dienst". Und meist sagt er über die eigenen Angehörigen und Freunde Schlechtes, auch über die Toten; üble Rede nennt er Redefreiheit, Demokratie, Freiheit, und das ist für ihn das Angenehmste im Leben.

In den Gedanken hörten Sie heute Betrachtungen des Philosophen Theophrast über kleine Unzulänglichkeiten des menschlichen Wesens. Entnommen wurden die Texte aus dem Büchlein "Charaktere", das im Reclam-Verlag erschienen ist. Gesprochen hat xx, gestaltet wurde die Sendung von Lothar Bodingbauer. Noch ein Hinweis: Moderne Charakterzeichnungen, eine Mischung von Phantastik und Genauigkeit, veröffentlichte Elias Canetti in der Sammlung "Der Ohrenzeuge", die im Fischer Verlag erschienen ist.


2. Kaliningrad

Königsberg auf dem Weg in den Westen: Zwischen Litauen und Polen liegt an der Ostsee die Exklave Kaliningrad, russisches Gebiet ohne direkten Kontakt zum Mutterland. Kaliningrad ist die westlichste Stadt Rußlands. Als östlichste Stadt Preußens war ihr Name Königsberg. Jene Besucher, die heute nach Kaliningrad kommen, um Königsberg zu finden, haben es schwer, die Stadt ihrer Kindheit wiederzuerkennen. Im August 1944 und im April 1945 wurde die Stadt von britischen Bombern fast völlig zerstört, den Rest besorgte die Politik der Sowjetisierung. Königsberg ist tot, es lebe Kaliningrad.

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Und dann fand ich auch noch unseren Brunnen, das Loch, das war ganz schlimm für mich.“

TEXT:

Zwischen Litauen und Polen liegt an der Ostsee die Exklave Kaliningrad, russisches Gebiet ohne direkten Kontakt zum Mutterland. Jene Besucher, die nach Kaliningrad kommen, um Königsberg zu finden, haben es schwer, die Stadt ihrer Kindheit wiederzuerkennen. Neunzehn­hundertvierundvierzig wurde das ostpreußische Königs­berg von britischen Bombern fast völlig zerstört, den Rest besorgte die Politik der Sowjetisierung.

Königsberg ist tot - es lebe Kaliningrad.

„Ja das muß ich ganz ehrlich sagen, diese Ruinen, die übriggeblieben sind, sind viel schmerzlicher, als wenn Du etwas nicht findest.“

Kaliningrad ist heute die westlichste Stadt Rußlands. Zugänglich für westliche besucher wurde sie erst 1991. Als Freihandelszone Bernstein erhielt die Region Ende vorigen Jahres einen wirtschaftlichen Sonderstatus innerhalb der Russischen Föderation, und somit auch politisches Eigengewicht.

TEXT:

Mehr über das Leben in Kaliningrad, mehr über die Geburtsstadt Immanuel Kants,  hören Sie heute Abend um ca. 18.20 in Österreich 1 - in unserem Journal-Panorama


Beitrag (mp3)


Manuskript

MODERATION:

Kaliningrad ist die westlichste Stadt Rußlands. Als östlichste Stadt Preußens war ihr Name Königsberg. Britische Bomber haben sie 1944 weitgehend zerstört, die Politik der Sowjetisierung entfernte die meisten Relikte der deutschen Geschichte, Menschen aus allen Teilen der Sowjetunion wurden angesiedelt.

Die Kaliningrader Region ist heute russisches Terretorium, besitzt aber keine Grenze mit Rußland. Die Enklave, etwa so groß wie die Steiermark, ist von der Ostsee, von Polen und Litauen umgeben. Das Gebiet ist zwar ein weißer Fleck auf unserer geistigen Landkarte - entfernungsmäßig ist Kaliningrad ebenso weit von Wien entfernt, wie etwa Genf.

Die Region erhielt Ende vorigen Jahres einen wirtschaftlichen Sonderstatus innerhalb Rußlands, und damit auch politisches Eigengewicht. Als strengstes Militärgebiet wurde Kaliningrad vor drei Jahren erst westlichen Besuchern zugänglich gemacht und zur Freihandelszone Bernstein erklärt. Lothar Bodingbauer hat sich in Kaliningrad umgesehen.

OT 1

Ja, Kaliningrad gefällt mir nicht, da bin ich ganz ehrlich, das ist nicht wiederzuerkennen, da fehlt einfach das Deutsche, aber da leben ja jetzt andere Leute drin, andere Sitten, ich wünsch´ den Kaliningradern nur, daß sie schnell vorankommen, daß es etwas besser wird. Die Leute, die hier geboren sind, sollen das als ihre Heimat betrachten. Sollen sie pflegen, und sollen sie lieben.

TEXT:

In Kaliningrad Königsberg zu suchen, das ist zwar möglich, aber zumindest für die Teil­nehmer des "nostalgischen Tourismus", oft mit Traurigkeit verbunden.

OT 2

Unser Haus steht nicht mehr, aber ich habe, da steht eine Kirchenruine, da bin ich meinen Schulweg nachgegangen, durch hohes Gestrüpp, und kurz stand ich da. Erinnerungen, das lag an einem Dorfteich, der ist jetzt vertocknet, dürr, da wächst Schilf. Das war für mich der Wegweiser. Eine kleine Anhöhe, das war früher unser Gemüsegarten, den fand ich auch noch. Und dann fand ich noch unseren Brunnen, das Loch, das war ganz schlimm für mich, und trotzdem bin ich in meinem tiefsten Herzen glücklich, daß ich diese Fahrt gemacht habe, die brauchte ich, um auch in Westfahlen zu wissen, daß da meine Heimat ist.

ATMO 1: Verkehr.

TEXT:

Königsberg, das ist Geschichte, wir sind hier in Kaliningrad. "Wellcome", hat ein Sprayer enthusiastisch mit zwei "l" an einen Eisenbahnbrückenpfeiler gemalt, Reisende sollen freundlich empfangen werden. Kaliningrad ist - abgesehen von alt­sowjetischen Betonklötzen - eine grüne Stadt. Viele Straßen sind Wohnalleen, die Baumkronen schließen sich über den Fahrbahnen. Ratternde Straßen­bahnen, Autos mit dichten blauen Rauchwolken hinten dran, und auch ein alter rotweißer Bus der Wiener Verkehrsbetriebe ist mittendrin im Verkehr. "afnerlos" steht noch drauf, das "sch" ist wohl irgendwann verschwunden. (ATMO 2: Preßlufthammer) Schlag­löcher machen den Straßenverkehr zur Slalomfahrt, oft so groß daß ein kleinerer Hund darin verschwinden könnte. Hier flickt gerade eine Frauengruppe die Löcher. Den Preßlufthammer bedient die stämmigste unter ihnen, der einzige Mann sitzt auf der Straßenwalze. Die Dolmetscherin der Gebietsverwaltung meint:

OT 3:

SPRECHERTEXT 1:

Es ist sonderbar, daß gerade in Rußland viele Frauen harte Arbeit bevorzugen. Ich weiß nicht warum, es ist sehr sonderbar. Es gibt die Weisheit, daß wenn der Mann im Haus mehr Geld als die Frau verdient, die Frau wenig arbeitet. Wenn nun eine Frau hart arbeitet, verdient sie mehr Geld und fühlt sich unabhängig, das ist eine Frage des Lebensstils. Es scheint für mich, daß bei Ihnen in Österreich das ähnlich ist.

TEXT:

Raisa Minakowa ist Leiterin des Pressezentrums, sie antwortet auf die Frage, ob es denn normal sei, daß Frauen hier im Straßenbau arbeiten: Es ist eine Schande!

Im übrigen haben sich auch die klassischen Bezeichnungen und Ideale geändert. Der Taxifahrer meint auf die Frage, ob er denn jetzt Kapitalist wäre, nein. Auch Kommunist wäre er nicht, er sei Arbeiter. Nur bei denen in der Gebietsverwaltung wäre es unerhört:

SPRECHERTEXT 2:

"Die sind jetzt Kapitalisten und Kommunisten zugleich."

ATMO 3: Markthalle

TEXT:

In der vergangenen Saison wurde die Hälfte des Ackerlandes nicht besät, das Nahrungs­mitteldefizit mußte durch teure Importe ausgeglichen werden. Seit kurzem gibt es in den Geschäften immer mehr westliche Waren zu kaufen. Nur: die sind teuer.

Hier am Markt findet man alles: Vom spärlichen Hausrat, den manch einer vollständig verkauft, weil er kein Geld mehr hat, bis zu den Lebensmitteln des täglichen Bedarfes. Wie auch eine Stange mit aufgereihten Plastiksackerln: Die sind mir bekannt: Hier werden die bunten Tragtaschen jener österreichischen Handelskette verkauft, die "Der Platz der Phantasie" sein soll. Die Librosackerl sind jetzt der große Renner in Kaliningrad - wie auch überall im Baltikum.

Am Markt ist die Grenze eng - zwischen schnellverdientem Geld und letztem Rubel. Das durch­schnittliche Monatsverdienst liegt derzeit bei 100.000 Rubel, um­ge­rechnet etwa 600 Schilling. Mitarbeiter bei Banken und Ver­sicherungen verdienen das Doppelte. Angestellte in Wissenschaft, Kultur und Kunst erhalten die Hälfte des durchschnittlichen Monatsverdienst. So auch die Pensionisten.

Ein Kilo Brot kostet 500 Rubel, ein Passant erzählt mir, daß sich der Preis alle paar Tage um den zehnten Teil erhöhe. Das Einkommen hält diese Inflation nicht mit. Die Gewinner sind die neuen Businesmen.

OT 4:

Jetzt erscheinen die Leute, die Geld haben. Jetzt ist der Unterschied zwischen Armen und Reichen zu bemerken. Man konnte schon bemerken, er ist arm, er ist reich. Reiche Leute begannen Häuser zu bauen, Privathäuser, haben private Autos, arme Menschen haben manchmal kein Geld. Das sind Rentner, Studenten, ja. Alle Revolutionen sind für das Volk schwierig. Für uns auch, diese Reformen sind für das einfache Volk bestimmt sehr kompliziert. Es ist kompliziert, hier zu leben, aber wir hoffen, es wird besser, bestimmt. Ich meine, daß wir imstande sind, das selbst zu machen, denn das russische Volk ist ein Volk des Selbermachens, das selber alles machen kann.

TEXT:

Die Kalingrader Region wurde 1991 zur Freihandelszone "Bernstein" erklärt. Export- und Importzölle sind gefallen, Joint Ventures sollen ins Leben gerufen werden.

Die instabile politische Situation schrecke noch viele Investoren ab, meint Dmitrij Fimushkin, der Leiter des Entwicklungs­komitees der Freihandelszone.

OT 5:

SPRECHERTEXT 3:

Die Situation hat sich erst seit Beginn dieses Jahres geändert, seit unser Präsident Boris Jelzin in einem Dekret unserem Gebiet Wirtschaftsvorteile eingeräumt hat. Die unsichere Gesetzgebung fordert, daß wir viele neue Gesetze für die Region ausarbeiten müssen, das dürfen wir nun eigenständig tun. Diese Gesetze wurden bereits von den meisten Ministerien in Moskau abgesegnet und werden noch im Juni der Duma zur Diskussion präsentiert. Unser Hauptanliegen ist jetzt, die erhaltenen Vorteile durch Gesetze zu fixieren. Es ist also notwendig, die Entscheidungsgewalten vom Föderationsniveau an die Region selbst zu übertragen, damit die Wirtschaft von hier geleitet wird, in der lokalen Regierung.

TEXT:

Heißt das, die Kaliningrader Region arbeitet von nun an in die eigene Tasche?

OT 6:

SPRECHERTEXT 4:

Ich spreche nicht über das Gesetz der Kaliningrader Region, ich spreche über die Gesetze der Russischen Föderation, über die Entwicklung der Region Kaliningrad. Das Terretorium ist russisch, wir sehen es nur als russisches Terretorium. Die Sache ist die: wir haben eine geographisch günstige Lage, die sollten wir zum Vorteil Rußlands und seiner Entwicklung nützen. Wir sind bereit, neue internationale Verbindungen zu knüpfen, weil wir einen Enklavencharakter haben und Europa sehr nahe sind. Auch die Kontakte zur Europäischen Union können nur in jener Hinsicht diskutiert weden, daß die Kaliningrader Region ein Teil Rußlands ist.

TEXT:

Das meint auch der russische Außenminister Andreij Kozyrew:

SPRECHERTEXT 5:

"Die Region Kaliningrad ist ein zentraler Punkt unserer strategischen, politischen und ökonomischen Interessen in der baltischen Region. Sie formt einen unveräußerbaren und unumstößlichen Bestandteil der russischen Föderation."

Kaliningrad ist von seinen Nachbarn abhängig, 80% der Energieversorgung stammt aus Litauen. Transit und Transport mit dem Mutterland erfolgen zu hohen Kosten über Litauen und Weißrußland. Gerade aber die hohe Militärpräsenz in der Region sorgt für kühle Beziehungen mit den Nachbarstaaten. Rechnet man die Familien­angehörigen des Militär­personals ein, sind etwa die Hälfte der 400.000 Bewohner der Region Kaliningrad mit der Armee verbunden. Paradoxerweise hat sich die Zahl der Armeeangehörigen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erhöht. Viele der Truppen, die aus Ostdeutschland und dem östlichen Mitteleuropa abgezogen wurden, sind hier, zumindest zeitlich begrenzt, stationiert.

Für Aufregung sorgte heuer auch eine Meldung von Verteidigungminister Pawel Gratschow, der die Region zum "besonderen Militärbezirk" erklärte und ankündigte, daß Spezialeinheiten aus Soldaten aller Waffen­gattungen aufgebaut werden sollen. In Baltisk, zu deutsch Pillau, ist die Baltische Flotte stationiert, wie auch das Frühwarn- und Verteidigungssystem der Luftstreitkräfte.

Das Problem für die Region liegt nun darin, daß sie eben so stark auf militärische Belange ausgerichtet ist und bis auf den Fischfang die zivile Wirtschaft und Infra­struktur stark vernach­lässigt wurde. Diese Wirtschaftszweige müssen nun erst aufgebaut werden. So auch mit Mitteln der Europäischen Union.

Deutschland jedenfalls hält sich mit direkter Hilfe zurück - die guten Beziehungen zu Moskau seien wichtiger als der Verdacht, das Gebiet zu regermanisieren.

Einer der wichtigsten Punkte in der Entwicklung der Region ist der Verkehr. Wieweit die eisfreien Häfen von militärischen Aufgaben auf die zivile Verwendung umgestellt werden sollen, das ist noch nicht klar. Durch ein Joint Venture mit der deutschen Firma Rossbahn wird die Autobahn Berlin-Königsberg gebaut, und Flugverbindungen mit Paris, Berlin und Kopenhagen wurden gerade erst erföffnet. Frankfurt soll folgen, aber zuvor muß der Flughafen auf internationales Niveau gebracht werden. Die Normalspur-Bahnverbindung mit Berlin ist schon fertig - der Königsberger Express bringt nun in regelmäßigen Abständen Touristen in die Region. Die tägliche Verbindung ins polnische Danzig ist auch eine beliebte Schmuggel­strecke.

ATMO 4 + ATMO 4A:  Schmuggler/Eisenbahn.

TEXT:

Hier werden gerade 50 Stangen deutscher Zigaretten unter dem Dach der ersten Klasse verstaut. Sie sollen aus Kaliningrad wieder verbilligt nach Deutschland kommen. Einer der Helfer ist gerade von der Toilette aus in die Zwischendecke geklettert, sein Kollege reicht ihm durch die geöffnete Schalterverblendung des Abteils die Ware. Der Schaffner steht Schmiere. Als ein Grenzbeamter durchgeht, schiebt der Schmuggler die Tasche mit den noch nicht versteckten Zigaretten, ungerührt zwischen die Beine der im 1.Klasse-Coupé reisenden deutschen Studenten. An der Grenze dann müssen alle aussteigen, und wenig später kommen dann die Grenzbeamten mit Armen voller Zigaretten, Wodkaflaschen und anderen Schmuggelwaren aus dem Zug. die sie aus allen möglichen Verstecken hervorgezogen haben. Das Dachboden­versteck haben sie nicht entdeckt.  ––

Ob die Umstellung von der Planwirtschaft zur freien Marktwirtschaft für die Bevölkerung Kaliningrads schwierig ist?

OT 7:

SPRECHERTEXT 6:

Ich beziehe mich auf statistische Unter­suchungen: Die meisten Menschen sehen es emotionslos, aber optimistisch. Sie sehen es als eine Realität, die man nicht vermeiden kann. Sie müssen sich an die Änderungen einfach anpassen. Junge und Leute mittleren Alters sehen diese Situation als normal an, die Alten jedoch und die Pensionisten haben ein sehr geringes Einkommen, für sie ist besonders schwierig.

TEXT:

Die Freihandelszone ist für Rußland ein Testplatz. Hier sollen Neuerungen ausprobiert werden, die im Erfolgsfalle auf einer größeren Skala in ganz Rußland angewendet werden. Geographisch und größenmäßig jedenfalls wären die Bedingungen für eine stärkere europäische Integration ideal. Die Spannung bleibt jedoch, zwischen einer wirtschaftlich-politischen Brückenposition einer­seits, und Kaliningrads Rolle als militärischer Vorposten Rußlands gegen eine vermeintlich feindliche Umgebung anderer­seits.

Zusätzlich bewegt sich das Gebiet im Spannungsfeld zwischen den Vorstellungen einer offenen Freihandelszone und den Vorstellungen der Nationalpatrioten. Die LDPR, die ultranationale liberal­demokratische Partei Wladimir Schirinowskis erreichte bei den Wahlen der Gebietsverwaltung im Dezember 1993 die Mehrheit. Bei einem Besuch in der Enklave vor drei Wochen übte Schirinowski scharfe Kritik am Status des Gebietes. Es solle den anderen Gebieten Rußlands gleichgestellt sein und keine ausländischen Unternehmen auf seinem Boden dulden. Unter der segnenden Hand Lenins hielt Schirinowski seine Rede an die Bevölkerung. Sonst treffen sich unter dieser Statue die Bürger, um die Probleme der Zeit zu diskutieren, ein russischer Hyde-Park.

Nach soviel Kalingrad aber, begeben wir uns doch auf die Suche nach der alten Stadt, suchen wir also jetzt Königsberg.

ATMO 5: Verkehr

TEXT:

Wir befinden uns hier auf dem zentralen Platz, an dem früher die alte Pruzzenfestung stand. Die Burg der Ordensritter wurde nach der Landnahme vor 740 Jahren errichtet. Bei Bombenangriffen im August 1944 und im April 1945 war sie beinahe völlig zerstört worden, und in den Jahren danach wurde die Ruine  völlig weggeräumt, als ein "fauler Zahn deutscher Geschichte", wie Leonid Breshnew angeblich bei einem Stadtrundgang erkannte.

Jetzt ist der Platz eine riesige Betonwüste. In seiner Mitte, am Ort wo das Schloß stand, das unvollendete, zwanzigstöckige Rätehaus der Sowjets. Hier ist das Leben nicht. Mit tunnelartigen, vermauerten Fortsätzen an allen vier Seiten, und zerbrochenen Fensterscheiben kragt diese riesige verwirrende Ruine kafkaesk in den Himmel und bestimmt das deprimierende Bild des Platzes. Rundherum in weiter Entfernung sind auch heute noch die riesigen, roten Buchstaben mit sozialistischen Parolen auf den Dächern der Wohn-Hochhäuser zu sehen.

ATMO 6: Musik

TEXT:

Lebendig hingegen sind die Gebiete um die Teiche. Die Dominsel ist bei schönem Wetter die Donauinsel Kaliningrads. Dort stehen Plastiken russischer Künstler und selbst bei Nieselregen treffen sich unter den vielen jungen Bäumen viele Pärchen für Stunden der Nähe.

Der Dom soll jetzt wiederaufgebaut werden. Heute stehen nur noch die Außenmauern, von den zwei Türmen fehlt das meiste, und das Dach ist ebenfalls nicht vorhanden. Bis zur völligen Renovierung wird es noch Jahre dauern. Einstweilen sind im Kirchenraum Open-Air Konzerte geplant.

Die Stadtverwaltung beginnt, sich der deutschen Gebäude wiederzuerinnern. Im offiziellen Fremden­verkehrsprospekt sind es dann auch meist ostpreußische Gebäude, die dem Besucher als Kulturgüter gezeigt werden. Viele preußische Denkmäler werden wiedererrichtet - von ihnen war bisher nur eines akzeptiert - das von Immanuel Kant. Wenn er auch ein deutscher Philosoph war, er wurde von den sowjetischen Ideologen als Quelle und Vorläufer des Marxismus gesehen. Kant hat seine Heimatstadt nie verlassen, der Philosoph wußte auch, warum:

SPRECHERTEXT 7:

"Eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis, als auch der Weltkenntnisse genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann".

Der Historiker Nikolai Karamsin besuchte Kant einmal in Königsberg und schrieb danach:

SPRECHERTEXT 8:

"Er bewohnt ein kleines, unansehliches Haus. Überhaupt ist alles bei ihm alltäglich, ausgenommen seine Metaphysik."

Auf deutsche Initiative wurde vor zwei Jahren eine Plastik des Philosophen wieder an seiner Gedenkstätte aufgestellt.

Tiergarten, der Botanische Garten und all die Gärten um die Teiche werden jetzt revitalisiert. Es gibt auch schon einen offiziellen Stadtplan, auf dem alle Straßen- und Ortsnamen in ihrer deutschen Version verzeichnet sind.

ATMO 6: Meer

TEXT:

An der Samlandküste wird bei Palmnicken Bernstein im Tagbau gefördert. Die markante Steilküste steigt an manchen Stellen bis zu 60 Meter hinauf. An der Wertschätzung dieser Region hat sich bis heute nichts geändert. Nach Swetlogorsk oder Selenogradsk zu fahren -so werden Rauschen und Cranz heute genannt-  ist auch für die Russen eine Angelegenheit von Prestige und Genuß. Aber auch für andere Besucher sind nun diese Orte wieder geöffnet. Auf der schmalen Kuhrischen Nehrung kann man im Dünensand das litauische Niden erreichen.  Nur Baltisk - oder Pillau - ist auch heute noch als Marinestützpunkt strenges Sperrgebiet, aber auch hier gehen die Grenzbäume jetzt einmal im Jahr hoch, um ehemaligen Bewohnern ermöglichen, ihre Heimat zu sehen.

Lew Kopelew schrieb einmal, Kaliningrad sei eine Stadt ohne Überlieferung und ohne Seele. Diese Stadt hat jedoch eine Geschichte, die überall mit Händen zu greifen ist - nur keine sowjetische. Auf den Briefschlitzen der alten Häuser ist auch heute noch meist "Briefe und Zeitungen" eingraviert.

Der nostalgische Tourismus wird wohl früher oder später sein biologisches Ende nehmen, bis dahin sollten die Tourismusi­nfrastrukturen auch für andere Besucher aufgebaut sein.

OT 8:

Mein Name ist Soja. Ich bin Lehrerin von Beruf. Ich lebe in Kalingrad. Ich bin an der Wolga geboren, im Jahre 1941. Es gibt hier 6000 Rußlanddeutsche, sie leben in verschiedenen Städten unseres Gebietes, am meisten im Labyer-Bezirk, in der Siedlung Gilge, russisch Matrosowa.

TEXT:

Vor allem aus Mittelasien sind die Rußlanddeutschen hergezogen, gleich nach dem Krieg und wieder verstärkt in den letzten Jahren. Sie machten im Februar von sich reden, als sie in einem Appell an die vereinten Nationen die Errichtung einer "Deutschen Baltischen Republik" forderten. Dieser Wunsch wurde nicht erfüllt. Im deutsch-russischen Kulturhaus finden Begegnungen statt, zwischen Deutschen, Russlanddeutschen und Russen aus anderen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Und manchmal wird dabei auch ein Angehöriger der rechten Szene als Beobachter entdeckt. Die Beziehungen des offiziellen Deutschlands mit dem Gebiet Königsberg sind aber sehr vorsichtig, denn die Förderung der russlanddeutschen Neusiedler in Kaliningrad durch die Deutschen, ist naturgemäß heikel.

Ein Versuch, den Brückenschlag mit Deutschland zu ermöglichen, ist der "Königsberger Express", die deutschsprachige Zeitung der Stadt. Sie erscheint monatlich in einer Auflage von 10.000 Expemplaren. Der Leserkreis besteht aus Abonnenten in Deutschland und Kaliningrad, Touristen, sowie aus russischen und deutschen Firmen, deren Reklamever­öffentlichungen die Zeitung haupt­sächlich finanzieren. Elene Lebedewa ist die Chefredakteurin, vor einem Jahr hat sie gemeinsam mt ihrem Mann die Zeitung aufgebaut:

OT 9:

SPRECHERTEXT 9:

In unserer Zeitung arbeiten Russen, keine mit russlanddeutscher Wurzel, sie machen einfach eine deutsche Zeitung. Unsere momentane Hauptanstrengung bestehen darin, wie es heißt, in der Bundesliga zu bleiben, überhaupt erst einmal weiterzuexistieren. Natürlich ist es schwierig, aufgrund von Werbeeinahmen zu existieren, aber andererseits können wir auch nicht sagen, daß man uns von offizieller Seite Schwierigkeiten in den Weg legt. Die Informationen nehmen wir aus der hiesigen Presse, vor allem aus der Kaliningrader Prawda. Aber wir machen auch exklusive Themen, die von der Presse sonst nicht beleuchtet werden. Kulturelles, Geschichte, das bringen wir auch heraus. Wir würden aber auch gerne schöpferische Sachen einbringen, aber dafür ist noch nicht die Zeit.

ATMO 9: Jingle Radio Bas

TEXT:

Das ist Radio Bas, das erste und einzige Kaliningrader Privatradio. Internationale Musik rund um die Uhr, und die amerikanische Hitparade, das ist das Erfolgsrezept.

OT 10:

SPRECHERTEXT 10:

Ich liebe Radio Bas. Warum? Die bringen einfach gute Musik! -

TEXT:

Wir besuchen Radio Bas in seinem Sendezentrum: eine Zweizimmer-Wohnung im 16. Stock eines Hochhauses in den Ausläufern der Stadt. Fünf Angestellte arbeiten hier.

ATMO 10: Feier

TEXT:

In dem einen Zimmer feiert die Mannschaft gerade den Abschluß eines Werbevertrages - der Produzent hat eine Stange Wurst, Brot und Sekt mitgenommen. Valeri Petrowski begibt sich zwischenzeitlich in den Nebenraum, drei Zeitungen unter dem Arm, er wird daraus die Nachrichten lesen, als ehemaliger Schauspieler im Tifliser Stadttheater ist er der richtige Mann dafür. Ein Problem nur für die 11-Uhr Nachrichten ist der Bagger vor dem Haus, der mit Preßluft Stahlplatten in den Boden rammt. Das geht dann eben mit auf Sendung.

ATMO 11: Nachrichten.

TEXT:

Der Radiosender erhält sich selbst aus Werbeeinnahmen. Wo immer man als Besucher in Kaliningrad hinkommt: spielt ein Radio - der Sender ist meist Radio Bas. Dabei hat der Programmdirektor mit seinem Kollegen vom staatlichen Radio Jantar gute Beziehungen. Die beiden sitzen gemeinsam bei Kaffee und Kuchen und probieren den neuesten Kopfhörer aus, einer mit Radioempfang, mit dem sie auch gleichzeitg telefonieren können.

ATMO 12: Jingle Radio Bas.

TEXT:

Was bleibt - ist die Frage nach der Zukunft. Wird die wirtschaftliche Öffnung auch ein politisches Miteinander der baltischen - und damit europäischen Länder mit sich führen, oder wird der militärische Schrecken der Region ihre Umgebung unterkühlen. Kaliningrads Bewohner jedoch sind Besuchern gegenüber ausgesprochen gastfreundlich, wenn auch im Alltag die meisten Mundwinkel tendenziell nach unten zeigen, aber das kennen wir ja auch aus Österreich. Spricht man mit jemanden darüber, erhält man meist die lakonische Antwort: "Ihr habt leicht lachen".

Für Dmitrij Fimushkin, dem Leiter des Entwicklungs­komitees der Freihandelszone steht jedenfalls eines fest:

OT 11:

SPRECHERTEXT 11:

Ich sehe die Zukunft der Region Kaliningrad als eine sehr glückliche Zukunft russischen Terretoriums. Vielleicht wird dieses Terre­torium ein bißchen vor dem russischen Hauptland sich zum Guten entwickelt haben, ich sehe jedenfalls die kommende Zeit als eine glückliche Zeit russischen Terretoriums.

TEXT:

Ob Dmitrij Fimushkin recht behält? (ATMO 13: Musik) Die Zukunft wird es zeigen. Es bleibt zu hoffen, daß die Schwierigkeiten dieser sensiblen Region leichter zu lösen sind, als das berühmte Königsberger Brückenproblem. Dieses stellt nämlich die Frage, ob es möglich ist, bei einem Spaziergang durch das alte Königsberg jede der sieben Pregel-Brücken nur einmal zu überschreiten. Und dessen Antwort lautet: nein.