352. Randnotizen: Ruheabteil

Ein Jahr haben wir nun unser Leben reduziert. Und jetzt: wir können uns wieder häufiger treffen. Alte Herausforderungen werden wieder aktuell. Neue entstehen.


Manuskript

SIGNATION

Es gibt wieder Leben nach Corona. Das sich entfaltet. Das an Facetten gewinnt, an Dimensionen. Hoffnungen, die Wirklichkeit werden. Imaginäres, das angreifbar wird.

So geschehen in meinem Spanischkurs. Der wurde im letzten Jahr rein über Zoom, über Videokonferenz abgehalten. Großartige Erfindung. Man sitzt zuhause, jeder sitzt zuhause, und man lernt trotzdem gemeinsam. Und nun: 3G machts möglich, getestet, geimpft oder genesen, und gegen Ende des Spanischkurses könnte man noch ergänzen: geprüft. Wir haben uns vorige Woche zum Abschluss realmente in einem Spanischrestaurant getroffen zum Tacos essen. Waren die anderen Kursteilnehmer bisher flach und schön von vorne am Bildschirm zu sehen, kamen sie nun einer nach dem anderen zur Tür herein. Rund im Gesicht. Mit hervorstehenden Brillen und wippendem Schmuck. Der ganze Körper in Bewegung und man sieht sie von der Seite, man sieht die Größe, man sieht sich auch von unten und von oben. Gekrümmter, weil bewegter Mund. Selbst das Lächeln hatte ein vorne und hinten. Und ich sage Ihnen: ich habe keinen von den anderen unmittelbar wiedererkannt, obwohl ich sie vom Videounterricht gut kannte. Es scheint so, dass unser Hirn für das Wiederkennen alle Dimensionen braucht. Ist schlüssig, denn evolutionär sind Bildschirme doch erst ganz zum Schluss dazugekommen, die 3D – drei Dimensionen, auf zwei Dimensionen reduzierten.

Es war ein schöner Abend – so in echt, miteinander zu reden. Die Tacos waren großartig, und das Nichtwiederkennen am Anfang schlug nach wenigen Minuten um. In ein Erinnern, ein Wissen. So ein Hirn lernt offenbar, den zweidimensionalen Bildschirm nach einer ersten Verwirrung recht schnell mit der räumlichen Wirklichkeit zu verbinden. Das waren doch die Menschen, die ich kannte. Getestet, genesen, geimpft. 3G macht 3D wieder möglich – und ich rede noch gar nicht vom Parfum das manch wer trug.

TRENNER

Begegnungen auch in der Eisenbahn, wenn Fahrten wieder möglich sind. Eine neue Form des Vernaderns wurde da im letzten Jahr der Corona-Ruhe offenbar entwickelt, wir können sie derzeit in den Ruhewägen der Railjets unserer geschätzten Eisenbahn ausprobieren. Da hat sich wirklich wer was ausgedacht. Sie wissen ja, das Ruheabteil. Wenn ich wirklich Ruhe haben will während der Zugfahrt, dann muss ich mich in ein ganz normales Abteil setzen. Im Ruhewagen muss ich mich nämlich dauernd aufregen. Weil jemand spricht, ein anderer Musik hört, ein dritter telefoniert. Und das Schlimme ist, ich reg mich zu Recht auf, qua Signet reisen im Ruheabteil jene, die Ruhe suchen, weil sie müde sind, aber offenbar auch jene, die in Ruhe telefonieren möchten. Konflikte sind unvermeidlich, und wer nicht wirklich perfekt die Regeln der gewaltfreien Kommunikation beherrscht, ist hier verloren. Zur Erinnerung: gewaltfreie Kommunikation verläuft in 4 Stufen.

“Sie telefonieren gerade. Ich versuche im Ruheabteil mich zu entspannen. Wenn Sie telefonieren kann ich mich nicht entspannen. Ich bitte Sie daher, nicht mehr zu telefonieren.”

Sie spüren schon, das muss man vor der Abfahrt üben. Aber:

Diese wundervolle Reihe freundlicher Informationen und Appelle des gewaltfreien Gesprächs mit einem Störenfried können Sie nun abkürzen, indem Sie in das Bord-Internet einloggen und die Person per Platznummer vernadern.

ZITAT Sie fühlen sich in der Ruhezone gestört und wollen anonym eine Lärmbelästigung melden? Dann folgen Sie diesem Link. Sollten Sie sich durch das Nichteinhalten der Spielregeln von einem Mitreisenden gestört fühlen, haben Sie die Möglichkeit, dies unserem Zugpersonal an Bord von ihrem Sitzplatz aus zu melden. Danach wird mithilfe einer Durchsage explizit auf die Ruhezone hingewiesen bzw. unser Zugpersonal persönlich im Wagen vorbeischauen um sich um die Einhaltung zu kümmern.

Wie war das? Haben wir richtig gehört? Wir spulen zurück.

ZITAT Danach wird mithilfe einer Durchsage explizit auf die Ruhezone hingewiesen.

Helfen Sie mir mit einem Vergleich. Das ist so, wie wenn man im Dunkeln mit der Taschenlampe nach Sternen sucht. Oder eben – und das kenne ich aus Zeiten, als ich schlechte Nerven hatte – wenn die Kinder anschreit, endlich ruhig zu sein.

ZITAT Danach wird mithilfe einer Durchsage explizit auf die Ruhezone hingewiesen.

TRENNER

Man kriegt sich schneller in die Haare, dieser Tage, so scheint es. Themen wie Politik, Ruhezonen, Platzverbote oder “die Impfung” sollte man unter Umständen in Gesprächen eher mal ausklammern. Und da stellt sich die Frage, worüber man eigentlich reden soll. Probieren Sie’s mal mit dieser unverfänglichen Frage: “Sind Sie mit ihren Lippen zufrieden?”. Ich hab das probiert. Interessanterweise haben die meisten gelächelt, und sagten. “eigentlich ja”. Irgendwie, und das finde ich nett, haben alle ihre Lippen gern. Sie auch?