355. Diagonal: Reduktion

Manuskript

Schauen Sie bitte eine Ihrer Gabeln an. Genau, die vom Besteck. Höchstwahrscheinlich hat sie 4 Zinken und 3 Zwischenräume. Im Sinne der Reduktion könnten wir doch einen Zinken wegnehmen. Sie funktioniert immer noch. Und noch einen. Es bleiben 2 Zinken über – und ein Zwischenraum. Es heißt nun Spießchen. Das Ding hat also einen anderen Namen bekommen. Es hat auch etwas Funktion verloren, aufschaufeln kann man mit den zwei Zinken nichts mehr. Werden auch die noch getrennt, dann heißt das Ganze “Stäbchen” – und hier muss der Reis dann extra klebrig sein, oder das ganze Esskonzept muss umgestellt werden, die Schale zum Mund geführt und die Nudeln mit den Stäbchen in den Mund hineingeschoppt werden. Reduktion hat also etwas mit Funktion zu tun – ab einer bestimmten Grenze der Vereinfachung ändert sich die Funktion und dann bekommt das Ding einen anderen Namen.

“Kontextabhängige Menüführung” – jetzt nicht beim Essen, sondern bei der Software oder auch im Flugzeug, wird das genannt. Sie kennen das Bild vom typischen Cockpit: unzählige Schalter und Lämpchen. Sie zu reduzieren, ohne an Komplexität zu verlieren oder die Funktion zu verändern, das wird heute mit Bildschirmen gelöst.

OT Reduktion 1

*In einem modernen Cockpit gibt es jetzt auch das sogenannte Glascockpit…*

Martin Kozik, AO.Professor für Regelungsmethoden an der TU-Wien …

OT Reduktion 2

*… das heißt, große Bildschirme, die das was früher zum Beispiel der Kompass war und so weiter, auch darstellen können, aber natürlich auch sehr viele Funktionen abrufbar machen über kontextsensitive Tasten. Das heißt, je nachdem in welchem Betriebszustand dieses Display ist, haben die Tasten eine andere speziell zugeordnete Funktion.*

Es werden also nur noch die Schalter und Entscheidungsmöglichkeiten angezeigt, die im jeweiligen Moment notwendig sind. Und was notwendig ist, das ändert sich ständig. Das ist die wahre Kunst der Reduktion. Hier werden Abläufe mitgedacht. Und hier können Katastrophen passieren.

Der Knopf für den Schleudersitz bleibt nicht zufällig ein wirklich-extra-Knopf in einem sonst gläsernen Cockpit.

OT Reduktion 3

*De Facto wird natürlich vom Bordpersonal überwacht. Das heißt, jede der Entscheidungen, die da vielleicht getroffen werden, sind letztendlich immer abgesegnet von einer menschlichen Instanz.*

Reduktion führt in der Wissenschafterkenntnisgewinngeschichte oft zu Modellen. Modelle sind “reduzierte Abbilder der Wirklichkeit”. Um die Wirklichkeit zu verstehen, um sie vorherzusagen. Gerade lebende Organismen werden so besser verstehbar.

Blut ist ein sogenannter Modellorganismus. Ein Pieks in den Finger. Die Analyse der Inhaltsstoffe – und schon wissen wir, wie es uns. Die Gene der Fruchtfliege – sie vermehrt sich alle 7 Tage, die Generationen sind leicht verfügbar. Was wir bei der Fruchtfliege verstehen, das kann auch auf andere Lebewesen übertragen werden. Die Ackerschmalwand in der Botanik. Escherichia-Coli in der Bakteriologie. Die Labormaus. Alles Modellorganismen, besonders gut verstanden, von denen wir oft hören. Oder auch: Caenorhabditis elegans, von Wissenschaftler:innen recht lässig “C elegans” genannt. Auf Deutsch: der Fadenwurm.

OT Reduktion 4

*Der Fadenwurm hat die Besonderheit, dass er nur 302 Nervenzellen besitzt, und wir haben Technologien entwickelt, dass wir die Aktivität aller dieser Nervenzellen in Echtzeit aufzeichnen können. Und aus diesen Messungen heraus können wir Rückschlüsse ziehen, welche Verhaltensabläufe dieser Wurm gerade kontrollieren möchte.*

Manuel Zimmer ist Professor für Neurobiologie an der Uni Wien.

OT Reduktion 5

*Warum schlafen wir überhaupt. Wie passiert es überhaupt, dass ein Gehirn, oder ein Organismus so schlagartig oder schnell von einem Zustand in den anderen Zustand versetzt werden kann.*

Versteht man das beim Fadenwurm, kann es auf unser Gehirn übertragen werden. Fadenwürmer schlafen übrigens gerne im Rudel. Wenn der Sauerstoffgehalt in der Umgebung sinkt, atmen viele Fadenwurmmünder. Es sind also offenbar viele von ihnen auf einem Haufen, und das signalisiert ihnen, alle sind da, und sie schlafen ein. Ist der Sauerstoffgehalt hingegen hoch, dann wissen sie “O-o – die anderen sind weg”, ich bleib mal lieber wach.

OT Reduktion 6

*Und das faszinierende dabei ist, wir können jetzt die Gehirnaktivfität aufzeichnen in Einzelzellauflösung und in Echtzeit, und wir können sehen, wie so ein Gehirn aufwacht und wie es wieder in den Schlaf zurückversetzt wird.*

Neueste Ergebnisse aus der Borstenwurmforschung übrigens zeigen, wie dessen Muskelzellen vernetzt sind. Und wenn man dann sieht, wie dieser Wurm durch das Sichtfeld des Mikroskops groovt, und man kann das erklären, dann kann man die Faszination von Modellen für Wissenschaftler:innen nachvollziehen.

OT Reduktion 7

*Vielleicht sind diese Mechanismen nicht genau so im Detail im menschlichen Gehirn, aber im Prinzip könnte es ähnlich funktionieren*.

Modellorganismen werden perfekt erforscht, und die Forschung geht weiter. Models am Laufsteg oder am Plakat – ihre perfekte Schönheit soll ja angeblich auch für die gesamte Menschheit stehen.

Reduktion betrifft neben der Gabel, dem Cockpit, dem Fadenwurm und den Mode-Modellen auch die Erklärungen. Es heißt ja auch „Erklärungsmodelle”. Eine Erklärung wird dabei immer weniger sein, als die Welt in ihrer Fülle ist.

Und immer wenn es zwei konkurrierende Erklärungen gibt, für ein und die selbe Sache, dann wird die einfachere und kürzere Erklärung die richtige sein. Das ist das Prinzip von “Okhams Razor”, benannt nach einem Mönch. William of Ockham, ein mittelalterlicher Philosoph und Theologe. Das Prinzip der höchstmöglichen Sparsamkeit bei Erklärungen. Von mehreren möglichen Erklärungen für ein und denselben Sachverhalt ist die einfachste allen anderen vorzuziehen. Und eine Theorie ist einfach, wenn sie möglichst wenige Behauptungen enthält.

Das hat einen Vorteil: man kann sie leichter widerlegen.

“Die Sonne geht im Osten auf, im Süden hält sie Mittagslauf, im Westen wird sie untergehen, im Norden ist sie nie zu sehen.“ Einfach, nicht? Aber falsch. Wir brauchen also zu Okhams Rasierer noch etwas Feinschliff. Es braucht ein weiteres Wissenschaftsprinzip, die Vorhersage. Die mit der Erde im Mittelpunkt nicht möglich wird, für die seltsamen Schleifen, die andere Planeten über die Monate hinweg sichtbar am Himmel machen. Die Erde im Mittelpunkt, dieses erklärungsmodell, kann das nur mit unzählige Korrekturzahnrädern, die ins Himmelsuhrwerk eingebaut werden müssen, erklären, und Galileo Galilei kann mit einer konkurrierenden einfachen Erklärung punkten: die Erdre dreht sich, die Sonne bleibt ruhig. Das ist die Wahrheit.

“Abduktion” ist das Prinzip, aus seltsamen Besonderheiten das Seltsame zu entfernen, und den Rest als nüchternes Gesetz zu präsentieren.

Aber da sind wir nun bei einem wichtigen Punkt: wann geht es jemals um die Wahrheit. Klar, beim Flugzeugbauen und beim Bremsweg. Beim Mond und beim Computer. Aber in Wahrheit geht es doch genauso oft um Geschichten. Um schöne Geschichten, die das Universum beschreiben. Die Sache mit dem Urknall, 13,8 Milliarden Jahre ist das her. Expansion des Universums. Knapp mit Okhams Rasiermesser gekürzt und beschrieben. Fertig. Aber unsere Sehnsucht lebt von den Geschichten. Und Geschichten sind das Gegenteil der Reduktion. Sie machen unser Leben wieder erzählbar. Sie machen wieder Plüsch ran.

ZITAT mit Klang-Plüsch …

Izanagi und Izanami standen auf der schwebenden Brücke des Himmels und beratschlagten und sprachen: ,Ist unten am Boden nicht etwa gar ein Land?‘ Hierauf stießen sie mit dem himmlischen Juwelenspeer nach unten und rührten damit im blauen Meer herum. Als sie die Salzflut gerührt hatten, bis sie sich zäh verdickte, und sie den Speer wieder heraufzogen, häufte sich das vom Ende des Speeres herabtropfende Salz des Wassers an und wurde eine Insel, die den Namen bekam Ono-goro-zima: „Von selbst verdichtet und geronnen.“

ABMODERATION:

Eine japanische Schöpfungsgeschichte zum Schluss in diesem Beitrag von Lothar Bodingbauer über die Reduktion in Technik und Wissenschaft.