355. Diagonal: Reduktion

Manuskript

Schauen Sie bitte eine Ihrer Gabeln an. Genau, die vom Besteck. Höchstwahrscheinlich hat sie 4 Zinken und 3 Zwischenräume. Im Sinne der Reduktion könnten wir doch einen Zinken wegnehmen. Sie funktioniert immer noch. Und noch einen. Es bleiben 2 Zinken über – und ein Zwischenraum. Es heißt nun Spießchen. Das Ding hat also einen anderen Namen bekommen. Es hat auch etwas Funktion verloren, aufschaufeln kann man mit den zwei Zinken nichts mehr. Werden auch die noch getrennt, dann heißt das Ganze “Stäbchen” – und hier muss der Reis dann extra klebrig sein, oder das ganze Esskonzept muss umgestellt werden, die Schale zum Mund geführt und die Nudeln mit den Stäbchen in den Mund hineingeschoppt werden. Reduktion hat also etwas mit Funktion zu tun – ab einer bestimmten Grenze der Vereinfachung ändert sich die Funktion und dann bekommt das Ding einen anderen Namen.

“Kontextabhängige Menüführung” – jetzt nicht beim Essen, sondern bei der Software oder auch im Flugzeug, wird das genannt. Sie kennen das Bild vom typischen Cockpit: unzählige Schalter und Lämpchen. Sie zu reduzieren, ohne an Komplexität zu verlieren oder die Funktion zu verändern, das wird heute mit Bildschirmen gelöst.

OT Reduktion 1

*In einem modernen Cockpit gibt es jetzt auch das sogenannte Glascockpit…*

Martin Kozik, AO.Professor für Regelungsmethoden an der TU-Wien …

OT Reduktion 2

*… das heißt, große Bildschirme, die das was früher zum Beispiel der Kompass war und so weiter, auch darstellen können, aber natürlich auch sehr viele Funktionen abrufbar machen über kontextsensitive Tasten. Das heißt, je nachdem in welchem Betriebszustand dieses Display ist, haben die Tasten eine andere speziell zugeordnete Funktion.*

Es werden also nur noch die Schalter und Entscheidungsmöglichkeiten angezeigt, die im jeweiligen Moment notwendig sind. Und was notwendig ist, das ändert sich ständig. Das ist die wahre Kunst der Reduktion. Hier werden Abläufe mitgedacht. Und hier können Katastrophen passieren.

Der Knopf für den Schleudersitz bleibt nicht zufällig ein wirklich-extra-Knopf in einem sonst gläsernen Cockpit.

OT Reduktion 3

*De Facto wird natürlich vom Bordpersonal überwacht. Das heißt, jede der Entscheidungen, die da vielleicht getroffen werden, sind letztendlich immer abgesegnet von einer menschlichen Instanz.*

Reduktion führt in der Wissenschafterkenntnisgewinngeschichte oft zu Modellen. Modelle sind “reduzierte Abbilder der Wirklichkeit”. Um die Wirklichkeit zu verstehen, um sie vorherzusagen. Gerade lebende Organismen werden so besser verstehbar.

Blut ist ein sogenannter Modellorganismus. Ein Pieks in den Finger. Die Analyse der Inhaltsstoffe – und schon wissen wir, wie es uns. Die Gene der Fruchtfliege – sie vermehrt sich alle 7 Tage, die Generationen sind leicht verfügbar. Was wir bei der Fruchtfliege verstehen, das kann auch auf andere Lebewesen übertragen werden. Die Ackerschmalwand in der Botanik. Escherichia-Coli in der Bakteriologie. Die Labormaus. Alles Modellorganismen, besonders gut verstanden, von denen wir oft hören. Oder auch: Caenorhabditis elegans, von Wissenschaftler:innen recht lässig “C elegans” genannt. Auf Deutsch: der Fadenwurm.

OT Reduktion 4

*Der Fadenwurm hat die Besonderheit, dass er nur 302 Nervenzellen besitzt, und wir haben Technologien entwickelt, dass wir die Aktivität aller dieser Nervenzellen in Echtzeit aufzeichnen können. Und aus diesen Messungen heraus können wir Rückschlüsse ziehen, welche Verhaltensabläufe dieser Wurm gerade kontrollieren möchte.*

Manuel Zimmer ist Professor für Neurobiologie an der Uni Wien.

OT Reduktion 5

*Warum schlafen wir überhaupt. Wie passiert es überhaupt, dass ein Gehirn, oder ein Organismus so schlagartig oder schnell von einem Zustand in den anderen Zustand versetzt werden kann.*

Versteht man das beim Fadenwurm, kann es auf unser Gehirn übertragen werden. Fadenwürmer schlafen übrigens gerne im Rudel. Wenn der Sauerstoffgehalt in der Umgebung sinkt, atmen viele Fadenwurmmünder. Es sind also offenbar viele von ihnen auf einem Haufen, und das signalisiert ihnen, alle sind da, und sie schlafen ein. Ist der Sauerstoffgehalt hingegen hoch, dann wissen sie “O-o – die anderen sind weg”, ich bleib mal lieber wach.

OT Reduktion 6

*Und das faszinierende dabei ist, wir können jetzt die Gehirnaktivfität aufzeichnen in Einzelzellauflösung und in Echtzeit, und wir können sehen, wie so ein Gehirn aufwacht und wie es wieder in den Schlaf zurückversetzt wird.*

Neueste Ergebnisse aus der Borstenwurmforschung übrigens zeigen, wie dessen Muskelzellen vernetzt sind. Und wenn man dann sieht, wie dieser Wurm durch das Sichtfeld des Mikroskops groovt, und man kann das erklären, dann kann man die Faszination von Modellen für Wissenschaftler:innen nachvollziehen.

OT Reduktion 7

*Vielleicht sind diese Mechanismen nicht genau so im Detail im menschlichen Gehirn, aber im Prinzip könnte es ähnlich funktionieren*.

Modellorganismen werden perfekt erforscht, und die Forschung geht weiter. Models am Laufsteg oder am Plakat – ihre perfekte Schönheit soll ja angeblich auch für die gesamte Menschheit stehen.

Reduktion betrifft neben der Gabel, dem Cockpit, dem Fadenwurm und den Mode-Modellen auch die Erklärungen. Es heißt ja auch „Erklärungsmodelle”. Eine Erklärung wird dabei immer weniger sein, als die Welt in ihrer Fülle ist.

Und immer wenn es zwei konkurrierende Erklärungen gibt, für ein und die selbe Sache, dann wird die einfachere und kürzere Erklärung die richtige sein. Das ist das Prinzip von “Okhams Razor”, benannt nach einem Mönch. William of Ockham, ein mittelalterlicher Philosoph und Theologe. Das Prinzip der höchstmöglichen Sparsamkeit bei Erklärungen. Von mehreren möglichen Erklärungen für ein und denselben Sachverhalt ist die einfachste allen anderen vorzuziehen. Und eine Theorie ist einfach, wenn sie möglichst wenige Behauptungen enthält.

Das hat einen Vorteil: man kann sie leichter widerlegen.

“Die Sonne geht im Osten auf, im Süden hält sie Mittagslauf, im Westen wird sie untergehen, im Norden ist sie nie zu sehen.“ Einfach, nicht? Aber falsch. Wir brauchen also zu Okhams Rasierer noch etwas Feinschliff. Es braucht ein weiteres Wissenschaftsprinzip, die Vorhersage. Die mit der Erde im Mittelpunkt nicht möglich wird, für die seltsamen Schleifen, die andere Planeten über die Monate hinweg sichtbar am Himmel machen. Die Erde im Mittelpunkt, dieses erklärungsmodell, kann das nur mit unzählige Korrekturzahnrädern, die ins Himmelsuhrwerk eingebaut werden müssen, erklären, und Galileo Galilei kann mit einer konkurrierenden einfachen Erklärung punkten: die Erdre dreht sich, die Sonne bleibt ruhig. Das ist die Wahrheit.

“Abduktion” ist das Prinzip, aus seltsamen Besonderheiten das Seltsame zu entfernen, und den Rest als nüchternes Gesetz zu präsentieren.

Aber da sind wir nun bei einem wichtigen Punkt: wann geht es jemals um die Wahrheit. Klar, beim Flugzeugbauen und beim Bremsweg. Beim Mond und beim Computer. Aber in Wahrheit geht es doch genauso oft um Geschichten. Um schöne Geschichten, die das Universum beschreiben. Die Sache mit dem Urknall, 13,8 Milliarden Jahre ist das her. Expansion des Universums. Knapp mit Okhams Rasiermesser gekürzt und beschrieben. Fertig. Aber unsere Sehnsucht lebt von den Geschichten. Und Geschichten sind das Gegenteil der Reduktion. Sie machen unser Leben wieder erzählbar. Sie machen wieder Plüsch ran.

ZITAT mit Klang-Plüsch …

Izanagi und Izanami standen auf der schwebenden Brücke des Himmels und beratschlagten und sprachen: ,Ist unten am Boden nicht etwa gar ein Land?‘ Hierauf stießen sie mit dem himmlischen Juwelenspeer nach unten und rührten damit im blauen Meer herum. Als sie die Salzflut gerührt hatten, bis sie sich zäh verdickte, und sie den Speer wieder heraufzogen, häufte sich das vom Ende des Speeres herabtropfende Salz des Wassers an und wurde eine Insel, die den Namen bekam Ono-goro-zima: „Von selbst verdichtet und geronnen.“

ABMODERATION:

Eine japanische Schöpfungsgeschichte zum Schluss in diesem Beitrag von Lothar Bodingbauer über die Reduktion in Technik und Wissenschaft.

339. Menschlicher Faktor

Menschliches Versagen bei Flugzeugunfällen
Diagonal 17.10.2020, Lothar Bodingbauer, 7 min.

BEITRAG

Es war kein ganz normaler Flug. Schon von Beginn an. Kurz nachdem der Airbus der Hapag Lloyd am 12. Juli 2000 in Kreta gestartet war, ließ sich das Fahrwerk nicht einfahren. Kein allzu großes Problem eigentlich. Kommt vor, ist gut geübt und gut bekannt. Der Flug wurde fortgesetzt und landete nicht wie geplant in Hannover, sondern in Wien. Allerdings: am Acker vor der Landebahn. 143 Passagiere und 8 Besatzungsmitglieder mussten das Flugzeug über die Notrutschen verlassen. Alle haben überlebt, aber 26 Personen wurden verletzt. – Der Treibstoff war ausgegangen. Überraschend für die Piloten, denn der Flugrechner im Airbus-310 hätte eine geordnete Landung zumindest in München vorausberechnet. – Was war passiert? Luftwiderstand: Wer mit ausgefahrenem Fahrwerk fliegt, braucht um die Hälfte mehr Treibstoff. Das wussten die Piloten, sie dachten aber, dass der Flugrechner das auch weiß, und miteinbezieht in seine Berechnungen.

ZITAT

Was macht es? Warum macht es das? Und was macht es als nächstes?

Das fragen sich Pilotinnen und Piloten sehr häufig, wenn sie es mit komplexen Systemen zu tun haben, denen sie vertrauen müssen. Der Flugrechner ist so ein System.

Und jetzt kommt das “hätte”, dieses unscheinbare Wort, das die Verzweigungen des Schicksals in der Vergangenheit ermöglicht. “Hätte” der Pilot nicht versucht herauszufinden, was der Flugrechner macht, warum er das macht, und was er als nächstes macht, hätte er seine Denkzeit verwenden können, eine bessere Lösung für das Problem “Fahrwerk lässt sich nicht einziehen” zu finden. “BIAS” heißt das auf Englisch, wenn Menschen ihre Gedanken in einem bestimmten Licht führen. Voreingenommenheit. BIAS, eine gedankliche Schlagseite, die man erhält, weil vielleicht die Zeit knapp ist. Es gibt mehrere davon: Den Bestätigungs-Bias zum Beispiel: Die Lösungssuche konzentriert sich auf bisherige Annahmen. Der Aufmerksamkeitszurodnungs-Bias, er tritt unter Stress auf, die Reihenfolge strukturierter Abläufe wird verworfen und der Bedrohung geopfert. Und neben diversen Biases gibt es noch den Tunneleffekt, die Konzentration auf das Problem statt der Rundumsicht; Aufgabeneliminierung: unter hoher Belastung werden ganze Handlungsketten ausgelassen. Und: das Vertrauen in die eigene Kontrollfähigkeit, vulgo: sich zu überschätzen; plus Autoritätsgefälle im Cockpit – dem Copiloten fällt’s auf, und fragt sich, wie sag ich`s dem Chef.

ZITAT

Die Stresszunahme des Kommandanten wird aus der Sprachauswertung evident …

… steht im Unfallbericht des Hapag Lloyd Flugs 3378 von Kreta zum Acker vor Wien …

ZITAT

… Symptome der Regression, Stottern und unvollständige Sätze, Äußerungen von Hoffnung und Angst sind in der Sprachauswertung nachweisbar.

Die Piloten wurden von Ereignissen überrascht, anstelle sie vorherzusehen. “Sie flogen hinter ihrem Flieger her”, so heißt es es in der Fliegersprache.

Was passiert ist, wird im Unfallbericht akribisch analysiert: Eigentlich war eine Kontermutter schuld, eine Befestigung, die die Fahrwerkseinziehungshydraulik justiert. Ein Fehler in der Wartung. Die Feinjustierung wurde immer schlabbriger über die Monate und Jahre hinweg, so dass nach 2000 klaglosen Starts und Landungen sich bei der 2001 das eingefahrene Fahrwerk nicht mehr verriegeln ließ. Der Pilot wollte das Flugzeug zurück nach Deutschland bringen – Stichwort: wirtschaftliche Anforderungen – und er verließ sich dabei auf den Flugrechner, der anzeigte, zumindest bis München kannst du fliegen.

“Getheritis” wird ein sehr spezieller BIAS genannt, unter dem Piloten leiden, die viel fliegen. Sie möchten am Abend schleunigst zuhause ankommen, wenn sie schon 5 Flüge hatten.

“Getheritis, ankommen wollen”. Eigentlich kein Problem, wenn es nur das einzige Problem wäre. Sind aber: schlechte Sicht. Seitenwind und ein unstabilisierter Anflug noch mit im Spiel, dann könnte die letzte Entscheidung, die Landung nicht abzubrechen, zum Problem werden.

Unfallberichten listen auch auf, an welcher Stelle zeitlich zurück was getan hätte werden können, um ein Unglück zu verhindern. Beim Flug der Hapag Lloyd war diese Stelle in der Gegend um Graz, dort wäre eine sichere Landung noch möglich gewesen. Besser in Zagreb. Oder in Kreta, in aller Ruhe hätten die Checklisten abgearbeitet werden können, die extra dafür da sind, nichts zu vergessen.

Der Pilot hat seine Fluglizenz aufgrund dieses Unfalls verloren. Unter anderem weil er lange keine Luftnotlage erklärt hat, bis 22 km vor der Landebahn in Wien beide Triebwerke ausgefallen waren. Ob er auch ein Lob erhielt, dass er trotzdem noch landen konnte, und alle überlebten?

ZITAT

25 Minuten vor der Notlandung äußerte der Kommandant offen und erstmalig auch seine Skepsis hinsichtlich einer erfolgreichen Landung …

… steht im Unfallbericht …

ZITAT

… und zwei Minuten später räumte er auch ein, dass ihn die Umstände verblüffen. Als danach der Copilot aussprach, dass er zur Überzeugung gelangt sei, dass der Flugrechner den höheren Luftwiderstand doch nicht berücksichtigt, schlug sich die dadurch ausgelöste zusätzliche Überraschung und Belastung des Kommandanten in seiner Sprache nieder.

Selbst das Cockpit-Design kann mitverantwortlich sein, ob Pilotinnen und Piloten Fehler machen – im Krisenfall, wenn es eng wird mit der Aufmerksamkeit. Leuchten alle Lämpchen grün, wenn alles passt, und nur das eine rot? Oder leuchtet nichts, bis auf das Problematische? Welche Alarmmeldungen werden automatisiert ausgerufen? Schüttelt das Steuer, wenn die Strömung droht abzureißen – und sind die Steuerbewegungen des Piloten auch zu spüren vom Co-Piloten?

OT / Markus Völter 1

“Also was die Luftfahrt sehr gut kann erst mal, ist Kommunikation. Jeder Fehler führt nur einmal zu einem Unfall. Weil dann wird viel Aufwand in die Aufklärung gesteckt und es wird dann auch an alle Airlines kommuniziert und es wird gefordert, dass sie Procedures ändern.”

Markus Völter, Softwareingenieur und Autor des Buches “Once You Start Asking”. Er hat mit über 300 Technikerinnen und Technikern über ihren Beruf gesprochen, ihre Arbeit, und ihre Geräte. Und wenn sie versagen.

OT / Markus Völter 2

“Ein weiterer Punkt ist dann eben auch eine Fehlerkultur, dass man Fehler zugibt. Und eben nicht die Angst hat, das man dann als Depp dasteht oder gefeuert wird. Und was auch dabei hilft, ist dieses anonyme Reporting. Das man sagen kann, hey ich habe heute den Kapitän soundso beobachtet und das war echt übel, was der Mann getrieben hat, redet mal mit dem. Man muss solche Prozesse gut designen. Weil Fehlerkultur heißt ja, dass alle Willens sind, Fehler zuzugeben und damit konstruktiv umzugehen.”

Dazu kommt natürlich: Gutes Handwerk, und: trainieren, was sich trainieren lässt. – Rein technische Gebrechen, wie das plötzliche Ausfahren der Schubumkehr in vollem Reiseflug, wie das 1991 bei der abgestürzten Lauda Air Maschine im Westen Thailands der Fall war, sind meist völlig neu und nicht vorhersagbar, sonst würde man das ja verhindern.

Menschliches Versagen besteht aus menschlichen Unzulässigkeiten, die für sich ganz normal sind, aber in einer schicksalhaften Verbindung mit Technik zum Schweizer-Käse-Problem werden: wenn sich die Löcher darin zufällig in Linien aneinander reihen, dann fällt der Käse auseinander.

OT / Markus Völter 3

“Also der Punkt ist einfach, dass immer an solchen Grenzsituationen, wo man fast beschlossen hätte, durchzustarten, oder wo die Sicht fast zu schlecht war, oder der Wind fast zu hoch, das ist sozusagen eins von diesen Swiss Cheese-Löchern. – Wenn man es philosophisch betrachtet ist immer der Mensch schuld, weil jeder technische Fehler in der Maschine natürlich auch irgendwie von einem Menschen verursacht wurde, weil die Maschine nicht früh genug getauscht wurde, weil die Wartung fehlgeschlagen hat, weil im Design was kaputt ist. Wir kommen immer beim Menschen raus im Endeffekt.”

298. Sonnenforschung

298. Sonnenforschung

Astrid Veronig erzählt von der Sonne. Sie leitet das Sonnenobservatorium Kanzelhöhe in der Nähe von Villach. Einer der Wissenschaftler dort ist auch Werner Pötzi.  Ein Beitrag über die Sonne, unseren nächsten Stern.

Manuskript (ohne letzte Änderungen)

Seine Größe, seine Wärme, seine Wanderung am Himmel, so sagen fast alle Sprachen. "Ihre" Größe, ihre Wärme und ihre Wanderung am Himmel, sagen wir. Und wir meinen damit die Phänomene der Sonne, die allgemein bekannt sind. Größe, Wärme, Wanderung.

Wäre sie nicht da, würden alle Planeten samt Erde in alle Richtungen des Universums davonfliegen. Das wird oft vergessen, ihre Anziehungskraft. Die Sonne hält alles zusammen mit ihren 2 Milliarden Milliarden Milliarden Tonnen, sodass während der Reise der Erde um sie herum, über Frühling, Sommer, Herbst und Winter ein schönes Jahr zustande kommt. Und wer im hohen Norden wohnt, der kennt noch etwas ganz Besonderes, was es ohne Sonne auch nicht gibt. Jonna, eine Schülerinnen aus Sodankylä in Finnland:

OT / Jonna / Fuchsfeuer / Overvoiced
*Als kleines Kind habe ich mich auch oft über die Nordlichter gewundert, und wie verrückt geschrieen, was sind die denn, und dabei bin ich herumgerannt. Was sind die eigentlich, zeigte ich lachend mit dem Finger auf sie. Was sind die? Ich will sie berühren! Dann hat mein Patenonkel gesagt, das sind Nordlichter. Wow, sagte ich dann, wow!*

Der Sonnenwind ist es, der das Nordlicht macht. Die indigene Bevölkerung im Norden, die Samen, nennen das Nordlicht "Fuchsfeuer" - weil das Leuchten der Legende nach von einem Fuchs kommt, der mit seinem Schweif über den Himmel wischt. Wissenschaftler meinen: "Ohne Sonne kein Fuchsfeuer". Sie stößt in Ausbrüchen, die dramatischer nicht sein können, Materie in den Weltraum. Elektronen, Protonen. Sie schleudert sie in alle Richtungen. Auch zur Erde. Das Magnetfeld der Erde fängt die Teilchen ein - sie bewegen sich zum Nordpol und Südpol, und bevor sie dort jemanden treffen, treffen sie zuerst auf die Atmosphäre, die sie zum Leuchten bringen. Auch bei uns.

OT / Veronig / bei uns auch
*Das letzte war glaube ich 2003 im Oktober. Da gab es extrem starke Ausbrüche von der Sonne, wo man sie auch in Österreich sehen konnte. Das musste außerhalb der Stadt sein.*

Astrid Veronig leitet in Kärnten das Sonnenobservatorium auf der Kanzelhöhe. Es wurde im zweiten Weltkrieg 1941 errichtet, auf der Gerlitzen, einem Berghang in der Nähe von Villach über den Nebeln des Ossiachersees. Dort wo die Sonne am schönsten ist. Also am häufigsten scheint in Österreich.

OT / Veronig / Arbeit
*Sonnenphysik und Astrophysik ist die generelle Fragestellung, wie kann ich Informationen vom Objekt kriegen, das ganz weit weg ist. Da hat man festgestellt, dass die Ausbrüche von der Sonne und diese Strahlungsausbrüche, und Materiausbrüche einen großen Einfluss auf die Erde haben können. Damals insbesondere der Einfluss auf den Funkverkehr.*

Der Funkverkehr auf der Mittel- und Langwelle ist in hohem Maß von der Sonnenaktivität abhängig. Geht die Sonne unter, bilden sich in der hohen Atmosphäre geladene Schichten, die den Funkverkehr reflektieren und über viel größere Distanzen schicken können. Kein Wunder, dass sich das Militär dafür interessierte. Auch heute noch zeichnen die diensthabenden Messwarte täglich die Sonne, "wie es ihr geht", sie zeichnen die Sonnenflecken. Es die Fortführung der Zeitreihe der Messungen, die ganz besonders wertvoll ist.

OT / Veronig heute
*Es schaut natürlich teilweise anachronistisch aus, wenn man jetzt wirklich Das Bild projiziert und die Sonnenflecken abzeichnet. Nur der Punkt ist, dass die Sonnenfleckenzahl, das ist unser wichtigstes Maß zur Bestimmung der Sonnenaktivität, und die gibt es seit ungefähr 400 Jahren, die wird genau auf diese Weise ermittelt, dass man diese Sonnenfleckenzeichnungen hat, und man überprüft, wie viele Sonnenfleckengruppen gibt es, wie viele Einzelflecken gibt es, wie sind die atmosphärischen Bedingungen vor Ort wie groß ist das Teleskop, und das ist unsere wichtigste homogene Zeitserie, die auch unter anderem für Klimaforschung auch relevant ist, weil man sagt, wie schauen die Änderungen auf der Sonne auf, wie steht das in Beziehung mit Klimamodellen. Und wenn man das jetzt ändert auch ganz andere Beobachtungsbedingungen., wie elektronische, größere Teleskope, dann ist es möglich, dass man hier einen Sprung in diesen Beobachtungsserien hat.*

Eine Bibliothek gibt es in dem schönen Gebäude, geeignet für Arbeitstreffen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus alle Welt.

OT Pötzi / Intro
*Die Sonne ist ein großes Experiment*

Einer von ihnen ist Werner Pötzi.

OT / Pötzi / cont.
*Wir wissen nicht wirklich, wie sie funktioniert. Und weil wir draufkommen möchten, wie sie funktioniert, müssen wir sie beobachten. – Atmo raufgehen - Jetzt gehen wir hinein in das Gebäude und hinauf in unseren Hauptbeobachtungsturm. Wir sehen hier, das Teleskop ist relativ klein. Erstens, die Sonne liefert genug Licht. Die Sonne ist so hell, dass wir das Teleskop sogar abblenden müssen. Und zweitens, wir wollen immer die gesamte Sonne sehen. Das heißt, wir brauchen nicht eine so hohe Auflösung, weil sonst Das Bild nicht auf die Kamera passen würde. Wir sehen hier ein Weißlichtbild, das genau die Sonne so zeigt, wie wir sie mit unserem Bild, das nennt man Weißlicht. In Wirklichkeit nehmen wir die Sonne hier im grünen Licht. Im grünen Licht ist die Sonne am hellsten. Und dort ist die zentrale Wellenlänge der Sonne. Die Sonne ist eigentlich grün. Hier sehen wir schon ein paar Sonnenflecken. – Jeder Beobachter hier hat normalerweise eine Woche Dienst, und sollte bescheid wissen, was auf der Sonne passiert. Denn wenn wir die Sonne nur mehr über Kameras und Computer beobachten, so verlieren wir sie total aus den Augen und wir wissen selber nicht, was los ist, ob alles richtig funktioniert. Also, wenn sich ein Fleck sehr schnell ändert, so kann man davon ausgehen, dass es bald wieder Ausbrüche geben wird. Dann ist man darauf vorbereitet, man schaut, dass alle Geräte richtig funktionieren, und dass man das auch aufnehmen kann. – So, vom Beobachtungsturm können wir jetzt direkt hinaufgehen auf das Dach, auf das weiße Dach (Atmo), und wir gehen hier über einen Steg hinauf und über Treppen hinauf, ganz oben, auf den Giebel. (Atmo). Hier heroben befindet sich unser Strahlungsmessstation.*

Auch die Atmosphärenwissenschaften sind am Sonnenobservatorium beteiligt. (Atmo weg). Wer das Licht der Sonne analysiert, und feststellt, da fehlt etwas davon, von dem, was eigentlich da sein müsste, bestimmte Farben nämlich, dann muss das einen Grund haben. Ozon zum Beispiel. Und anhand der Menge des Fehlenden kann man die Menge des Ozons feststellen, oder umgekehrt: wenn kein Licht fehlt, die Größe des Ozon-Lochs, das sich durch alle Umwelt-Maßnahmen übrigens ganz gut wieder zurückentwickelt hat. Und ja, das Klima. So stark das Wetter schwankt, das Klima sich verändert, die Sonne ist in der ganzen Geschichte ein verlässlicher Motor, der schnurrt und brummt und läuft und strahlt.

OT / Veronig / Gleichmäßigkeit
*Also unsere Sonne ist jetzt ungefähr 4,5 Milliarden Jahren alt, und wird noch einmal so alt werden. Das heißt, wir sprechen hier von Zeitskalen von 10 Milliarden Jahren. Auch wenn wir jetzt Leben auf anderen Exoplaneten um andere Sterne suchen, dann suchen wir auch bevorzugt bei Sternen, die so lange stationäre Entwicklungen haben. Wenn ich jetzt sehr mausereiche Sterne habe, da passiert viel, da gibt es riesige Ausbrüche, und das auf kurzen Skalen, da ist es unwahrscheinlich, wenn ich jetzt lange Entwicklungszeitskalen habe, wie die Sonne, die sind da sehr dankbar auch für die Entwicklung auf Planeten, die sie umkreisen, und insofern ja, auf Zeitskalen, auf denen wir hinschauen, gibt es keine großen Änderungen.*

Die ESA, die europäische Weltraumagentur, plant eine neue Mission. In ein, zwei Jahren soll es los gehen, und bis auf 60 Sonnenradien Respektabstand wird sich eine Sonde, der "Solar Orbiter", der Sonne nähern.

OT / Veronig / ESA
Man würde zum Beispiel gerne wissen, wie die Korona unter Anführungszeichen geheizt wird. Das ist eigentlich die äußerste Schicht der Sonne, die Corona, das ist keine stationäre Schicht, sondern die Sonne expandiert permanent, wird von unten nachgeliefert und expandiert. Und letztlich schützt sie uns auch gegenüber den Einfluss, sei es jetzt von kosmischer Strahlung, die von anderen Sternen und Supernovaexlosionen kommt, das macht eine Art Schicht um unsere Planeten herum, das passiert über den Sonnenwind, der auch das Magnetfelder der Sonne auch mit rausträgt. Und wie der beschleunigt wird, das hängt mit der Heizung der Sonne zusammen, weil beides bedeutet, dass man Energie in die Korona bringt und damit Materie nach außen treiben kann.*

Der Orbiter wird die Sonne auch von "oben" sehen. Er wird sich für diese polare Bahn viel Schwung holen müssen, er wird die körnige Sonnenoberfläche wie das blubbernde Grießkoch am Herd sehen.

OT / Veronig Temperatur
*Die Sonnenoberfläche hat eine Temperatur von 6000 Grad, in den 40-er Jahren hat man festgestellt, die Corona, die oberste Schicht hat eine Temperatur von 1 bis 2 Millionen Grad. Seit dem ist das ein ungelöstes Problem in der Sonnenphysik.*

Sonnenforschung steht immer in Verbindung mit der Erde. Es ist das, was sie uns schickt: Teilchen und Licht. Radiowellen, Röntgenstrahlung. Ein bisschen was von Gammastrahlen. Von ihren physiologischen Auswirkungen - Vitamin D, Photosynthese, gar nicht zu reden.

OT Veronig / Schluß
*Früher hat es geheißen, die solarterrestrischen Beziehungen, heute heißt es "das Weltraumwetter", weil wir über moderne Technologien und Technologien, die über Satelliten funktionieren, und auch über die ganzen Kommunikationswege sehr anfällig sind gegenüber Störungen.*

Und man kann sie auch hören, die Sonne: Übersetzt man ihre Schwingungen in Klänge, dann - am besten Sie hören selbst, so klingt die Sonne, wenn sie Wasserstoff zu Helium verbindet. So klingt sie, wenn sie im sonst dunklen Universum das Licht macht.

ATMO / Klang der Sonne zum Ausfaden.