Vor 10 Jahren in Wien. 1996. Genauer Ort der Begebenheit: In diesem Café. Das Café Westend. Sie ahnen es. Ein richtiges Wiener Café. Mein Lieblingscafé, weil es ein wenig abgewetzt wirkt, weil vor den großen Fenstern die Straßenbahnen vorbeifahren, und vor allem, weil es am Westbahnhof liegt und ich jederzeit in einen der Züge steigen könnte, um diese schöne Stadt in Richtung Amsterdam, Paris oder Budapest zu verlassen. In genau diesem Café trug sich an diesem Tag Ungeheuerliches zu.

Wie es in der Natur der Sache liegt, kann man an diesem Ort nicht nur Wien verlassen, sondern auch betreten. Und nicht wenige Touristen aus dem Ausland beginnen ihren Aufenthalt eben im Café Westend.
Ich habe seit Jahren die Gepflogenheiten der Herren Ober studiert, weiß was man tut, und weiß, was man besser läßt. Ich kenne die Lautstärke, in der man „Herr Ober, zahlen“ ruft, weiß, wann ein „bitte“ dazugehört, und wann nicht. Ich kenne mich aus bei der Melange, beim kleinen Braunen, beim Kapuziner und der Schale Gold. Wenn der Herr Manfred im Halbdunkel am Kellnerpult steht, weiß ich, daß es besser ist, das Zahlenwollen um 5 Minuten zu verschieben, weil der Herr Manfred gerade ein Sexhefterl studiert. Irgendwann werde ich ihm auf dem Weg zur Toilette ein neckisches „Aber Herr Manfred“ ins Ohr raunen, aber derartige Intimitäten sind normalerweise nur dem Herrn Doktor erlaubt, der die Zeitungen noch nach der Sperrstunde lesen darf, während er inmitten der hochgestellten Sessel einen Gugelhupf mit Schlag zu sich nimmt.

Also, um zur Begebenheit dieses Sonntags zurückzukommen: Gäste sind wir gewohnt im Café Westend. Wir fühlen mit ihnen, wenn Sie mit unsicherer Stimme eine Melange bestellen, hoffend, das richtige bestellt zu haben, wenn sie doch nur Kaffee kennen.

Übrigens, so ganz im Vertrauen: Ein bißchen Schmäh ist bei den ganzen Caféarten dabei. Es sollen einmal vier Herren „Eine Schale Gold, einen gestreckten Braunen, einen Kapuziner und eine Melange bestellt haben. Der Herr Ober ging zur Budel und rief nach hinten: „Mali, vier Café“.

Ich hielt also gerade in diesem Café meine Nachhilfestunde in Physik ab, erzählte von Einstein und Schrödinger, als ich rechts von mir an einem der Mitteltische, die den Gästen aus dem Ausland vorbehalten sind, zuerst Geraune, dann verdeckten Aufruhr vernam. Ich habe es von Anfang an erlebt, und es hat sich folgendermaßen geschickt.

Ein Gast aus Deutschland bestellte ein Frühstück. Als er mit „Eine Melange bitte“ begann, applaudierte ich stumm. Er hat sich informiert. Doch dann begann es: „Und zwei Semmerl“. Natürlich hätte ich ihm weiter stille Anerkennung zollen sollen, denn „Semmerl“ zu sagen, das verriet genaue Kenntnisse. Doch etwas hielt mich zurück. „Haummma net“ pfauchte der Herr Ober. Oh Du Armer, weißt Du nicht, daß es am Sonntag hier kein Gebäck gibt? Sei zufrieden mit der Melange und bestell jetzt einen Gugelhupf, dann ist alles gut.

Der Gast nahm für den zweiten Anlauf seinen Mut zusammen. „Dann näme ich zwei Kipferl“. Oh mein Gott. „Kipferl“ zu sagen, das zeigt ein gerüttelt Maß an linguistischer Fachkenntnis, aber am Sonntag!!!

„Haumma net!!!!“ Das Selbstbewußtsein des Deutschen war gebrochen, er sank in sich zusammen und ergab sich dem Lokalcolorit. Gottseidank, ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn er rebelliert hätte. Traurige Verwirrtheit machte sich auf seinem Gesicht breit. Ich hätte ihm gerne auf die Schultern geklopft: Das kann ja jedem passieren“.

Charme, so lehrt mich der Duden, Abteilung Fremdwörter, Charme ist eine liebenswürdig-gewinnende Lebensart. Und dann schreiben die Reiseführer über den Wiener Charme der Wiener Herren Ober im Wiener Café, Wiener Charme ist etwas ganz besonderes. Wiener Charme, verehrte Hörer, ist, wenn der Herr Ober das Tablett mit dem kleinen Braunen grundsätzlich einen Zentimeter über dem Tisch abstellt, und wenn er dabei „No, is scho do“ ruft. Dann können Sie sicher sein, er mag sie.

Nach vielen Jahren Caféhauserfahrung wurde ich damals beim Eintreten begrüßt mit „Ein kleiner Brauner, der Herr“. Nie habe ich einen kleinen Braunen getrunken, immer nur große, oder eben eine Melange. Aber ich kann ihnen dieses Glücksgefühl nicht beschreiben, diesen wärmenden Strahl der Sonne im schmuddeligen Grau des Alltags, als ich so begrüßt wurde. Ich fühlte, er hat mich angenommen. „Ja bitte, Herr Manfred, und ein Buttersemmerl!“