3. Theophrast

Verleumder, Nörgler, Schmeichler: Eine Sendung über menschliche Unzulänglichkeiten und Schwächen des Alltags. Er war gewiss kein Moralist. Theophrast, Schüler, Freund und Mitarbeiter Aristoteles. Die leisen Fehlhaltungen des Durchschnittsmenschen interessierten ihn mehr als schwerwiegende moralische Defekte und Laster. In seinen “Charakteren” weist er mit leisem Spott auf Nebenwirkungen hin, die für den Charakter unbequem sind und malt mit Behagen die lächerlichen Begleitumstände aus.

Sprecher: Klaus Höring, Musikauswahl: Alfred Rosenauer

Sendung ohne Musik (mp3)

Hinweis: Die Musikstücke wurden hier für das Archiv entfernt, sie waren aber ein wesentlicher Teil der Sendung.


Manuskript

VERLEUMDER, NÖRGLER, ABERGLÄUBISCHE
Der griechische Philosoph Theophrast über kleine menschliche Schwächen und Fehler des Alltags.


Er war gewiss kein Moralist. Theophrast, Schüler, Freund und Mitarbeiter Aristoteles. Die leisen Fehlhaltungen des Durch-schnittsmenschen interessierten ihn mehr als schwerwiegende moralische Defekte und Laster. In seinen “Charakteren” weist er mit leisem Spott auf Nebenwirkungen hin, die für den Charakter unbequem sind und malt mit Behagen die lächerlichen Begleitumstände aus.

“Man wird gewiß die Durchschnittsmenschen nicht schelten, denn ihnen fehlt die Freiheit, ihr Leben zu gestalten. Dagegen ist es schon recht, diejenigen zu tadeln, die zwar als wirklich freie Menschen aufwachsen und hinreichend Mittel haben, die ihnen erlauben, zu jeder beliebigen Lebensform zu gelangen, aber trotzdem den höchsten Wert außer Betracht lassen. Hat man den falschen Weg eingeschlagen, ist der Schaden groß und die Umkehr schwierig, mehr noch, sie ist fast unmöglich. Die Natur des Menschen faßt zwar noch Vorsätze und beurteilt anderes für besser, aber sie lebt im Gewohnten weiter.”

DER »SCHMEICHLER«

Unter Schmeichelei versteht man wohl ein schändliches Benehmen, das dem Schmeichler nützt; der “Schmeichler” aber ist einer, der jemanden begleitet und sagt: “Merkst du, wie die Leute auf dich schauen? Das passiert keinem in der Stadt außer dir. Man lobte dich gestern in der Halle.” Bei diesen Worten entfernt er ein Fädchen vom Mantel, und wenn durch den Wind ein Hälmchen ins Haar geriet, putzt er es weg und sagt lachend: “Weil ich dich zwei Tage nicht getroffen habe, hast du den Bart voll grauer Haare, und doch hast du für dein Alter noch schwarzes Haar wie kaum ein anderer.” Und wenn »er« etwas sagt, befiehlt er den anderen zu schweigen, er lobt ihn, wenn »er« es hört, den Kindern kauft er Äpfel und Birnen und wenn »er« es sieht, gibt er ihnen einen Kuß und sagt: “Einen guten Vater habt ihr Kleinen.” Er geht mit ihm Schuhe kaufen und sagt, »sein« Fuß sei harmonischer als die Sandale. Und er sagt »sein« Haus sei ein schöner Bau, »sein« Land sei schön bestellt und »sein« Portrait lebensecht.

DER »FLEGEL«

Es ist nicht schwer, die Flegelei zu definieren, sie ist ein auffälliges, anstößiges Scherzen; der “Flegel” aber ist einer, der auf offener Straße vor anständigen Frauen seinen Mantel hochhebt und ihnen seine Blöße zeigt. Im Theater klatscht er, wenn die anderen aufhören, und pfeift die Darsteller aus, die die übrigen gerne sehen. Und wenn das Theater still ist, richtet er sich auf und rülpst, damit sich die Zuschauer nach ihm umdrehen. Wenn der Markt voll ist, geht er zu den Nuß-, Myrten- oder Fruchtständen, stellt sich daneben und nascht, während er mit dem Verkäufer schwatzt. Sieht er jemanden irgendwohin eilen, hält er ihn auf. Hat einer gerade einen großen Prozeß verloren und verläßt das Gericht, geht er auf ihn zu und beglückwünscht ihn. Und er geht in eine Barbierstube oder eine Parfümerie und erzählt, er wolle sich betrinken.

DER »UNGELEGENE«

Die Ungelegenheit ist ein zeitliches Zusammentreffen, das für die Betroffenen peinlich ist; der “Ungelegene” aber ist einer, der zu einem, der keine Zeit hat, geht, um sich beraten zu lassen. Seiner Geliebten macht er den Hof, wenn sie Fieber hat. An einen, der in einem Bürgschaftsprozeß verurteilt worden ist, wendet er sich und fordert ihn auf, die Bürgschaft für ihn zu übernehmen. Soll er Zeuge sein, ist er zugegen, wenn der Fall schon entschieden ist. Zur Hochzeit eingeladen, klagt er das weibliche Geschlecht an. Einen, der eben von einem weiten Weg zurückkommt, lädt er zum Spaziergang ein. Wenn jemand zugehört und verstanden hat, steht er auf und erklärt es wieder von vorn. Wenn ein Sklave ausgepeitscht wird, tritt er hinzu und erzählt, daß einst sein eigener Sklave sich erhängte, als er so geschlagen wurde. Und wenn er tanzen will, greift er sich einen, der noch nicht berauscht ist.

GEDANKEN: VERLEUMDER, NÖRGLER, ABERGLÄUBISCHE
Der griechische Philosoph Theophrast über kleine menschliche Schwächen und Fehler des Alltags.

“Das Verhalten der freien Menschen ist doch wahrhaft widersinnig. Wenn ihnen die Wahl freisteht, wählen sie sich zum Wohnsitz die angesehenste Stadt und zu Freunden und Hausgenossen die besten Menschen. Wenn es ihnen aber freigestellt ist, als Lebensform die beste zu wählen, schätzen sie dies als gering ein und erledigen ihre ureigenste Angelegenheit ganz nach Zufall, ohne überhaupt zur Prüfung und kritischer Sichtung zu kommen. Wenn sie jedoch eine Reise unternehmen müssen, dann ziehen sie bei anderen Erkundigungen ein und suchen einen Führer, mit dem sie die Fahrt ungefährdet machen können. Aber über das ganze Leben werfen sie, wie man so sagt, Würfel, und ohne sich mitzuteilen, verfallen sie auf die Lebensform, die der Zufall will.

DER »UNAUFRICHTIGE«

Unaufrichtigkeit ist wohl die Anmaßung einer negativen Auslegung von Taten und Worten zum Schlechteren; der “Unaufrichtige” aber ist einer, der mit seinen Feinden, wo er sie trifft, zu reden und nicht ihnen seinen Haß zu zeigen pflegt. Er lobt sie ins Gesicht, die er heimlich angegriffen hat, und äußert sein Mitgefühl, wenn sie im Prozeß unterlegen sind. Er übt Nachsicht gegenüber denen, die schlecht von ihm reden, mit Leuten, die Unrecht leiden und verärgert sind, spricht er sanft. Nichts von dem, was er gerade macht, gibt er zu, sondern sagt, er überlege noch; tut so, als sei er eben erst gekommen, habe sich verspätet, sei krank. Und überhaupt pflegt er solche Redensarten zu gebrauchen wie: “Glaube ich nicht”, “Begreife ich nicht”, “Ich bin erschüttert”, “Du sagst, er sei anders geworden”, “Dies hat er mir nicht erzählt”, “Die Sache erscheint mir paradox”, “Ob ich nun dir mißtrauen, oder jenem Unrecht geben soll, ist mir nicht klar”, und: “Sieh nur zu, daß Du nicht rasch Vertrauen schenkst!”

DER »ABERGLÄUBISCHE«

Der Aberglaube erscheinnt natürlich als Feigheit vor dem Übersinnlichen; der “Abergläubische aber ist einer, der sich nach der Begegnung mit einem Leichenzug die Hände wäscht, mit Tempelwasser besprengt, ein Lorbeerblatt in den Mund nimmt und dso den ganzen Tag umherwandelt. Wenn eine Maus einen Mehlsack angefressen hat, geht er zum Zeichendeuter und fragt, was zu tun sei, und antwortet dieser, er solle ihn beim Sattler flicken lassen, so achtet er nicht darauf, sondern kehrt heim und bringt ein Opfer dar. Er ist weder bereit, an ein Grab heranzutreten noch an eine Leiche, noch an eine Wöchnerin, vielmehr sagt er, es sei ihm förderlich, sich nicht zu beflecken. Und trifft er einmal einen Knoblauchbekränzten, wie man sie an Wegkreuzungen sieht, geht er heim, badet von Kopf bis Fuß, ruft nach einer Priesterin und läßt sich mit einer Meerzwiebel oder einem jungen Hund reinigen. Sieht er aber einen Geisteskranken oder einen Epileptiker, erschrickt er und spuckt in die Falten seines Gewandes.

DER »NÖRGLER«

Die Nörgelei ist ein unziemliches Tadeln der Gaben, die man erhalten hat; der “Nörgler” aber ist einer, der einem Freund, der ihm eine Portion gesandt hat, durch den Überbringer sagen läßt: “Den Löffel Suppe und den Tropfen Wein hast du mir mißgönnt und mich darum nicht zum Mahle geladen.” Wird er von der Freundin geküßt, sagt er: “Ich würde gern wissen, ob du mich auch von ganzem Herzen liebst”. Auf Zeus ist er böse, nicht weil es regnet, sondern weil es zu spät regnet. Findet er auf der Straße einen Geldbeutel, sagt er: “Einen Schatz habe ich freilich noch nie gefunden.” Nach langem Feilschen mit dem Händler hat er einen Sklaven billig erstanden, aber er sagt: “Ich würde gerne wissen, ob das etwas Rechtes ist, was ich so billig gekauft habe.” Zu dem, der ihm die frohe Nachricht bringt: “Ein Sohn ist dir geboren!”, sagt er: “Füge hinzu: die Hälfte des Vermögens ist hin. Das ist erst die Wahrheit!”

DER »TAKTLOSE«

Die Taktlosigkeit ist der Definition nach ein Verhalten, das Unbehagen ohne direkten Schaden verursacht; der “Taktlose” aber ist einer, der hineingeht und einen, der eben eingeschlafen ist, weckt, um sich mit ihm zu unterhalten. Wer gerade abfahren will, den hindert er daran. Beim Essen erzählt er, er habe Nieswurz getrunken und sich von oben bis unten gereinigt, und schwärzer als die Sauce auf dem Tisch sei in seinem Stuhl die Galle gewesen. Über sich selbst sagt er, er sei an angenehmer und ein unangenehmer Mensch, aber einen Menschen zu finden, der beide Eigenschaften hat, sei schwierig. Und kühles Wasser gebe es bei ihm in der Zisterne und im Garten viel zartes Gemüse und einen Koch, der das Essen wohl bereitet, und sein Haus sei ein Gasthaus, nämlich stets voller Leute, und seine Freunde seien das Faß ohne Boden; denn obwohl er gefällig sei, könne er sie nicht füllen.

DER »VERLEUMDER«

Die Verleumdung ist ein Hang der Seele zu üblem Gerede; der “Verleumder” aber ist einer, der auf die Frage: “Wer ist der und jener?” mit einem Katalog wie die Genealogen antwortet: “Zunächst will ich mit seiner Herkunft beginnen. Der Mann selbst ist, wie bei solcher Abstammung üblich, ein Taugenichts, ein schlechter Mensch”. In seiner üblen Gesinnung sagt er zu einem: “Ich kenne mich doch aus. Da kannst du mir nichts vormachen.” Dazu gibt er Details: “Frauen dieser Art reißen die Passanten von der Straße weg mit sich fort”, und “Dieses Haus ist eines, wo man die Schenkel hebt! Das ist kein Witz, wie man sagt, sondern wie die Hunde auf der Straße treiben sies!” und “Kurz gesagt, Männerfallen!” und “Persönlich tun sie an der Haustür Dienst”. Und meist sagt er über die eigenen Angehörigen und Freunde Schlechtes, auch über die Toten; üble Rede nennt er Redefreiheit, Demokratie, Freiheit, und das ist für ihn das Angenehmste im Leben.

In den Gedanken hörten Sie heute Betrachtungen des Philosophen Theophrast über kleine Unzulänglichkeiten des menschlichen Wesens. Entnommen wurden die Texte aus dem Büchlein “Charaktere”, das im Reclam-Verlag erschienen ist. Gesprochen hat xx, gestaltet wurde die Sendung von Lothar Bodingbauer. Noch ein Hinweis: Moderne Charakterzeichnungen, eine Mischung von Phantastik und Genauigkeit, veröffentlichte Elias Canetti in der Sammlung “Der Ohrenzeuge”, die im Fischer Verlag erschienen ist.