5. Estland und Lettland
Die russische Armee wurde Ende August 1994 aus Estland und Lettland abgezogen. Anders als zur gleichen Zeit in Berlin war der Truppenrückzug aus dem Baltikum von keinem großen Zeremoniell und Lebewohl begleitet. “Das traurigste Kapitel der Geschichte des Baltikums ist beendet”, so drückte es der estnische Präsident Lennart Meri aus. Ein Gedenkgottesdienst im Dom der lettischen Hauptstadt Riga wurde veranstaltet, ein Rockkonzert in Tallinn. Von offizieller Seite war das genug der Freude. Drei Jahre nach der „singenden Revolution“, nach dem Wiederentstehen der neuen Ostseerepubliken, hat Nüchternheit die Euphorie verdrängt. Das sowjetische Geschichtsbuch konnte geschlossen werden; und doch nicht ganz, denn anders als im benachbarten Litauen sind in Estland und Lettland Menschen mit russischer Nationalität auch in der Mehrheit. Minderheitengeseze also für eine Mehrheit? Eine Sendung zum politischen Umbruch in Lettland und Estland.
Trailer
ESTLAND/LETTLAND – Ostseerepubliken im Umbruch
SPRECHER:
Das traurigste Kapitel unserer Geschichte ist beendet.
TEXT:
Das erklärte der Estnische Präsident Lennart Meri vor drei Wochen. Zwei Tage vor dem vereinbarten Termin, dem 31. August dieses Jahres, verließen in Zügen nach Moskau die letzten russischen Soldaten Estland und Lettland. Ohne großes Zeremoniell und Lebewohl. Der Weg ist frei – für die Zukunft des Baltikums ohne fremde Herrschaft.
OT: Fotograf (9a, 388)
Aber es gibt keine Arbeit, ich bin Lehrer der russischen Sprache, russische Sprache ist nicht mehr popular, vorher hatten wir einen fantastischen Druck. Jeder mußte studieren Russisch. Jetzt kann man wählen, und nach dem schweren Druck, alle Schüler wählen Englisch oder Deutsch.
TEXT:
Jetzt wird man lernen, mit den Minderheiten zu leben. Minderheiten, die in vielen Städten und Orten Estlands und Lettlands auch Mehrheiten sind. In Riga, der Hauptstadt Lettlands etwa, sind mehr als die Hälfte der Bevölkerung Russen – die meisten ohne lettische Staatsbürgerschaft und Wahlrecht. In Narva, der zweitgrößten Estnischen Stadt, leben sogar 96% Nichtesten.
Hören Sie mehr aus dem Baltikum: Estland und Lettland, drei Jahre nach Wiederbeginn ihrer Unabhängigkeit. Heute Abend im Programm Österreich 1, um ca. 18.20 in einem:
Hinweis: Der Schwerpunkt dieser Sendung liegt nicht auf der sowjetischen Geschichte und dem Truppenabzug, sondern auf dem Leben und den Schwierigkeiten der Gegenwart.
Manuskript
JOURNAL-PANORAMA “ESTLAND-LETTLAND”
MUSIK Teil 1 (Marschieren)
OT Fotograf
Weil ich bin einziger verrückter Fotograf in ganz Estland – diese Foto habe ich gemacht von diesem hohen Schornstein, 108 m hoch, Leiter geht draußen. – Aber es gibt keine Arbeit, ich bin Lehrer der Russischen Sprache, Russische Sprache ist nicht mehr popular, vorher haben wir einen fantastischen Druck. Jeder müßte studieren Russisch. Jetzt kann man wählen, und nach dem schweren Druck, alle Schüler, sie wählen Englisch oder Deutsch. – Oh those Russians.
MUSIK 2. Teil (Rasputin)
OT Russe
No, Russen einfach Leute. Keine Feind. Keine. Nu, dieses Territorium, Deutschland, Schweden, Polen, dann Russen, 300 Jahre hier. Bei uns alle Russen gegen Jelzin. Es ist nicht so einfach, aber nur jetzt ist schlecht.
MUSIK hoch
OT Konsul
Die Verhandlungen mit den Russen haben an sich nie Erfolg, weil die Russen immer mit neuen Wünschen kommen. Aber daran hat man sich in Estland schon gewöhnt. Was mir eher Sorgen macht, sind ungefähr 100.000, die zum harten Russischen Kern gehören, die einerseits unbelehrbar sind, d.h. keine Staatsangehörigkeit wollen, aber auf der anderen Seite meckern. Und mit denen wird man leben müssen, mit denen wird man aber auch leben können.
MUSIK hoch
TEXT
Der russische Bär hat keine Krallen mehr. Radio Lettland spielt oft und gerne dieses Lied, eine Persiflage auf den russischen Mönch und Abenteuerer _________________ Rasputin.
Früher war alles noch einfach. Da gab es die Sowjetunion, die Sowjetbürger, da gab es Moskau – das Zentrum., da gab es die baltischen Unionsrepubliken deren Hauptstädte unwichtig waren – wie gesagt, Moskau war das Zentrum.
Und jetzt? Neue Republiken, neue Städte, die auf einen Schlag wieder Bedeutung bekommen haben, neue Namen, neue Landkarten.
Am bekanntesten wird ein fremdes Land durch ein Unglück. Spätestens seit dem Untergang der “Estonia” wissen wir: Estland liegt an der Ostsee, Hauptstadt Tallinn. Mit Fährverbindungen nach Helsinki und Stockholm. Lettlands Hauptstadt Riga liegt ebenfalls an der Ostsee, wie Tallinn eine alte Hansestadt, reich geworden durch den Ostseehandel. Und Litauen, das ist Vilnius. Verzeihen Sie bitte, wenn das eben etwas schulmeisterlich geklungen hat, aber von uns aus gesehen, sind die baltischen Staaten so ziemlich das selbe, vor Ort jedoch sind Estland, Lettland und Litauen grundverschieden. Verwechslungen hätten Verwirrungen zufolge.
Das Engagement Österreichs in den wiederentstandenen Ostseerepubliken hält sich jedenfalls zurück. Warum das so ist? Geograf und Regionalforscher Dr. Michael Sauberer ist Baltikum-Experte:
OT Sauberer
Das hat wahrscheinlich viele Gründe, erstens ist der kulturelle Radius in diese Richtung von Österreich nicht sehr ausgedehnt, das kann man schon zurückverfolgen, Jahrhunderte zurück, zweitens glaube ich, war ja Österreich unter die Fittiche der Sowjetunion genommen, beim Staatsvertrag, sehr sehr vorsichtig, nur nicht irgendwie ein Wort über die Baltischen Staaten verlieren, um möglicherweise anzudeuten, daß die verlorene Unabhängigkeit völkerrechtlich nicht in Ordnung sei. Man hat hier in Österreich ein bißchen auch Angst gehabt, sich dieser Materie mit der Sowjetunion mit der SU anzulegen, und hat das weggelegt. Es war auch sehr enttäuschend, die ersten Unabhängigkeitsbestrebungen im Baltikum war, und wie die Reaktion war. In den Massenmedien wurden die Litauer, oder Esten als Sezessionisten hingestellt, als nationalisten stärksten Grade, also Gefühle, von denen man hier in diesen Ländern sehr wenig spürt, die Länder gerade in der Zwischenkriegszeit positive Traditionen hier entwickelt haben.
In allen drei Ländern lebten schon immer Menschen mehrerer Nationen miteinander. Litauen bewegte sich dabei in polnischer, die Letten und Esten in deutsch-russischer Umgebung. Daß heute in Estland und Lettland gerade die Einwanderer der ehemaligen Sowjetunion das Gleichgewicht der Nationen durcheinanderbringen hat eine Ursache:
OT Fotograf
Vor 2. Weltkrieg, haben 2 Freunde, sie heißen Josif und Adolf. Sie haben Europa geteilt. Lsterreich für Deutschland, Estland für Rußland. Dsa heißt Molotov-Ribbentropp-Pakt. Zwei gute Freunde. So war das, unsere Geschichte.
Deutschland und Rußland haben sich beide hemmungslos an den Bewohnern der baltischen Staaten bedient. Beide rekrutierten, deportierten, exekutierten. In der sowjetischen Zeit waren dann Estland und Lettland Zielgebiete der sowjetischen Einwanderung: mit den Fabriken kamen die Arbeiter, mit der Armee die Familien der Truppen. Es war schick, im Ruhestand an die Ostsee zu gehen, zumindest für Offiziere.
OT Rota
Leider, Lettland, oder man kann sagen zum Glück, Lettland ist kein einnationaler Staat. Einwohnerzahl Letten, die einheimische Nationalität ist nach 1989 52%. Andere Nationalitäten, zB Russen 33% ungefähr, Weißrussen, Ukrainer, Polen, Litauer und Juden. Zum Beispiel in Riga, Letten ist eine Minderheit.
ATMO Daugava + ATMO Möven
TEXT
Riga, Stadt an der Daugava – oder Düna. Eine Stadt mit 800 Jugendstilhäusern, geplant von deutschen, lettischen, aber auch russischen Architekten. Bei den Kommunalwahlen im Mai dieses Jahres durften ein Drittel der Bürger wählen – Letten. Mehr als die Hälfte der Bewohner Rigas sind Russen. Hier treffen wir auf die paradoxe Situation, daß Minderheiten eine Mehrheit bilden. Für die Perspektiven Lettlands ist das eine äußerst ungünstige Situation, sofern die Frage der Staatsbürgerschaft nicht durch ein Gesetz geklärt íst.
OT Rota Schnuka
Das ist ganz wichtig für Lettland, das macht die Lage für Russen, Ukrainer und Weißrussen Lage ganz unstabil. Mindestens sie könnten wissen, was ist mit ihnen.
Rigas Jugendstilhäuser werden von ponischen Restaurationsfirmen renoviert, die Vorschläge für das Staatsbürgerschaftsgesetz von der KSZE. Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hat ein waches Auge auf die Verabschiedung eines Staatsbürgerschaftsgesetzes geworfen, das den Menschenrechten nicht widerspricht.
ATMO Radio Lettland
TEXT
Das alte Staatsbürgerschaft Lettlands hätte 500.000 Nicht-Letten zu Staatenlosen gemacht, Präsident Guntis Ulmanis verweigerte die Unterschrift. Nach Regierungskrisen, Mahnungen durch den Europarat und KSZE, und Drohungen durch Russlands Präsident Jelzin ist nun alles geregelt: Vom Jahre 2003 an gibt es keine zahlenmäßige Beschränkungen mehr für die Einbürgerung – Lettisch zu sprechen, und dem Staat Lloyalität zu schwören, wird auch Bedingung für die Staatsbürgerschaft. Lettland zeigte in dieser Frage größere Härte wie Estland. Die Bereitschaft in den Verhandlungen nachgiebiger zu sein, wurde in Estlands Medien oft kritisiert, doch für den Estnischen Honorarkonsul in Salzburg, Porf. Henn-Jueri Uibopuu war das der richtige Weg:
OT Konsul
Ich halte es politisch für einen guten Schachzug, auf der anderen Seite Großzügigkeit zu zeigen, daß man auf der anderen Seite auch Forderungen stellen kann. Und ein Teil der Pensionisten, der echten Pensionisten ist ja schon 60, 65 Jahre alt, und außerdem bekommen alle Pensionisten die vor 1930 geboren sind, die bekommen automatisch die Aufenthaltsberechtigung, bei denen ist es kein Problem..
TEXT
Estland ist durch den schmalen Bottischen Meerbusen von Finnland getrennt. Das schuf die günstige Position, auch schon in Sowjetischer Zeit vom Finnischen Fernsehen naschen zu dürfen, die Isolierung vom Westen war dünn. In Estland dürfen auch Ausländer wählen, sie dürfen nur nicht gewählt werden.
OT Konsul
Da sind die Esten schon relativ großzügig. Ich kenne die Wahlrechte fast aller europäischen Staaten, und Ausländerwahlrecht, aktives und passives, haben die Schweden, aktives haben die Norweger, Dänen, Esten und Holländer. Aus, schluß. Anderswo gibt es kein aktives Wahlrecht, da sind die Esten an sich großzügig.
TEXT
In Narva etwa, der zweitgrößten estnischen Stadt leben 96% Nichtesten, ihre Bereitschaft, sich anzupassen, setzt Henn-Jueri Uibopuu voraus:
OT Konsul
Weil die Russen sehen, daß in Estland ihr wirtschaftliches Fortkommen einen wesentlich größeren Erfolg verspricht als in Rußland, und aus dem Grund werden sie sich umstellen müssen.
TEXT
Ob es zu einem gespannten oder normalen Miteinander kommen wird, oder vielleicht sogar zu einer Integration der nichtestnischen- und nichtlettischen Mitbürger, das zu vermuten ist noch zu früh. Zu genau sind noch die Erinnerungen an die Okkupation. Die Russen gelten im Baltikum gerne als unkultiviert, und wenn etwas nicht gut funktioniert, deutet man an, es sei “russisch”. Prof. Joannis vom geografischen Institut der Universität Riga:
OT Strauchi
Nach meiner Meinung, eine richtige Integration das ist nicht möglich, das ist nicht so leicht, und dazu glaube ich, daß kommt Mischung, Lettland vor 2. Krieg Lettland war praktisch nicht nur lettische Sprache. Jeder Lette, und jeder Russe spricht Lettische, Russisch, Deutsch, und jedes Geschäft auch. Das war so, und deshalb, diese verbindung mit Deutschland war ungefähr 7 Jahrhundert. Aber mit Integration das ist sehr schwer, sehr schwer natürlich. Diese Sowjetische Zeit war besonders tote Zeit in diese Richtung, daß nur russisch, russisch, russisch in allen Republiken.
OT Konsul
Schauen Sie, eine Kulturautonomie funktioniert einerseits, wenn die rechtlichen Rahmenbedinugngen da sind, aber wenn auch das Bestreben bei der Bevölkerung besteht, zwar Staatsbürger zu sein, aber auf der anderen Seite die kulturelle Identität zu wahren, und das besteht bei den Russen sicherlich. Die russische Identität beinhaltet so viel, das wäre schade, wenn es verloren ginge. Meiner Meinung nach ist es aber möglich, staatsbürgerliche Lloyalität mit kultureller Identität zu verbinden, und das wäre ansich die Lösung für Estland .
TEXT
Die kommunistische Zeit ist zu Ende. An der Rigaer Universität sorgt ein Stapel der Zeitschrift “Der Kommunist” für Frischluft. Der Stapel wurde auf zwei Meter Höhe verbannt – in der Toilette hält er das Fenster offen. Rudite Kalpina geht in ihrem Buch “Lettische Grammatik” der Frage nach, ob man sich der Vergangenheit so schnell entledigen kann.
MUSIK schon in letzten Absatz
SPRECHERTEXT
Kommunisten wenden ihr Mäntelchen, um die Mittel zu legalisieren oder um den sozialen Status zu halten. Das hat sich in einem sehr kurzen Zeitraum vollzogen, durch die Vermittlung „unseres“ Fernsehens, des Rundfunks oder der Presse. An Stelle der ewig schlechten Laune und des Überdrusses in der Beziehung zum Volk steht jetzt der nationale Schluckauf, den sowohl sie als auch das Volk haben, auch von zu reichlichen Mahlzeiten. Sie sind überall – fast wie vorher. Und wir sind machtlos – wie vorher. Wir sind sie.
TEXT
Und doch. Die Umstellung und Erneuerung der Strukturen wird ohne größere Skandale vorangetrieben, nur selten verschwindet ein Minister vom Amtssessel, durch nachgewiesene Verstrickung mit der alten Zeit.
OT Konsul
Der damalige Außenminister, jetzige Staatspräsident meri hat praktisch seinen anzen Stab vom Außenministerium rausgeschmissen, und hta einige von ihenn wieder eingestellt und sehr viele Junge eingestellt, die jetzt mittlerweile wieder einige Jahre drin sind. Deshalbt kann man sagen, das Außeenministerium istwohl eines der am besten funktionierenden Ministerien. Und Sie werden feststellen können, daß die besten Diplomaten, zB die in Wien, und auch in Bonn, alle relativ jung sind. Teilweise sogar von der kommunisten Zeit politisch unbelastet.
TEXT
In Riga treffen wir in einer öffentlichen Speisehalle Zarins Vilnis. Er ist Philosoph an der Lettischen Akademie der Wissenschaften. Er zeichnet ein anderes Bild der neuen Zeit.
OT Philosoph
Und dafür auf nackter Erde muß man den Staat bauen. Und in erster Linie kamen nicht die besten, sondern die Leute, die egoistische Interessen haben, und auch von voriger Okkupationszeit Erfahrung hatten, als treue Diener der Okkupanten. Und für uns bildet sich nicht die europäische, aber lateinamerikanische Gesellschaft mit einigen Millionären, und andere sehr arme Leute. Oder die zweite Möglichkeit, afrikanische. Mit Verwaltungsburgeoisie.
TEXT
Wie sieht er die Stimmung in dieser Zeit der Änderungen?
OT Philosoph
Muß man sagen, daß diese Schichte der Gesellschaft, die die meisten moralischen Kräfte tragen, besonders die Bauernschaft, Intelligenz und auch Rentner, sind in eine sehr miserable Situation getrieben – Selbstverständlich sind sie etwas, fühlen sich gedrückt, besteht eine Demoralisierung, aber nicht für das ganze Volk. Gibt es auch andere Schichten des Volkes und ich hoffe, daß das Volk lernt ziemlich schnell, aber auch ein Schuster muß man 5 Jahre lernen – aber wir haben keine 5 Jahre für unsere Politik noch zu lernen.
MUSIK schon in letzten Satz
SPRECHERTEXT
Tränen der Rührung und ein Wust aus sonstigen Gefühlen steigen in mir hoch, wenn ich alte Männer zusammenstehen sehe, die, ungeachtet des Durchlebten, eine sanfte Kraft und die Illusion von Selbstvertrauen und Standhaftigkeit ausstrahlen. Aber es sind so wenige! Wenn sie gehen, dann wird man den besten Teil unserer Vergangenheit begraben, und wir werden eigenhändig mit der Schaufel nachhelfen.
TEXT
Die Royalistische Partei Estlands hat in einem kuriosen Wunsch, Prinz Edward aus Großbritannien gebeten, für Estland die Krone zu tragen. Er wäre das rechte moralische Vorbild und geeignetster Souverän für Estland.
OT Konsul
Wie weit die Royalisten eigentlich ernst zu nehmen sind, das ist eine andere Frage. Sie erhellen vielleicht das etwas trieste Bild des Parlamentes. Ich würde sie nicht für ernst nehmen, obwohl einige Vorschläge gar nicht schlecht sind.
ATMO Kommunistenbüro
Früher bestimmte die politische Führung auch die Richtung der Kunst. Heute sind diese Beschränkungen weggefallen, die Künstler zeigen neue Performances und Installationen Doch dem grenzenlosen Kunstgenuß sind nun andere Grenzen gesetzt.
OT Tiiu Takistu
Ich möchte sagen, daß jetzt für Kunst allgemein keine gute Zeit ist. Die Menschen sind mit den alltäglichen Problemen beschäftigt. Sie beginnen aber, die neuen Trends zu verstehen, wir zeigen ihnen viel von den neuen Richtungen. Gerade haben wir in unserem Museum eine Sonderausstellung über Elmar Kites, einen estnischen Künstler, und hier sehen wir vergleichsweise viele Leute.
TEXT
Tiiu Takistu verwaltet das Aktiv des Kunstmuseums in Tartu – oder Dorpat – der Universitätsstadt Estlands. Ob sie fürchtet, daß sich die estnischen Künstler nun dem westlichen Mainstream unterwerfen werden?
OT Tiiu Takistu
Das ist jetzt schwer zu sagen. Es ist gut, daß unser Land offen ist, aber ich kenne nicht einmal die Probleme der anderen kleinen Länder in Europa. Diese Probleme werden auch zu uns kommen. Auch die anderen westeuropäischen Länder fürchten zum Beispiel den Einfluß der USA auf ihre Kultur, und so werden auch wir vor diesen Einflüssen nicht geschützt sein.
OT Philosoph
Ja, die Begenung mit weslticher Welt ist ziemlich hart und unangenehm. Denn wir sind nicht als gleichwertige Partner, aber als Ausbeutungsobejkte angesehen. Und von Seitens vieler ausländischer Stätten wir merken nur diese Berebungen: liqueidieren unserer Wirtschaft, besonders Landwirtschaft, um, denn Lettland war sehr lange Zeit Exporteur von landwirtschaftlichen Produkte. Und jetzt mit Dumping wird die alndwirtschaftliche Produktionunserer Bauern erwürgt. Und auch unsere Wirtschaft ist kompiziert. Denn unter Okkupationszeiten gab es viele rückständige Industriebetriebe. Aber meiistens ausändischer Politik auch mit Hilfe einiger lok aler Politiker erwürgen nicht die rückständigen aber die modernsten Teile dieser Wirtschaft. Und das erbittert uns.
ATMO Bratsche schon in die letzten Zeilen
TEXT
Am Domplatz in Riga sitzt ein Musiker. Malerisch. Ein kleines Mädchen hockt mit ihrer Katze an einem Bretterzaun. Zwei Kinder mit einer Schubkarre verkaufen die Rechte an ihrem Bild an die Touristen. Der leise Niselregen verbreitet eine triste Stimmung, sogar die bunten Werbung haben etwas an Farbe verloren. Ob man als schneller Besucher nur durch die bekannten Schriftzüge das Gefühl bekommt, daß ein nun Land sei frei?
ATMO Hotel de Rome
TEXT
Die Lobby im besten Hotel der Stadt, dem “De Rome” wird von Sicherheitsbeamten überwacht. Gesichtskontrolle. Leute, deren Art verrät, daß sie ins Hotel passen könnten, passieren unbehelligt den Eingang.
“Es ist einfach traurig zu sehen, wie Ihr lachen könnt”, meint Dr. Raita Karníte, Direktorin des Institut für Wirtschaft der lettischen Akademie der Wissenschaften, als das Mikrofon ausgeschaltet wird.
OT Wirtschaft
150 Angestellte haben hier gearbeitet. Nun sind wir 32. Wegen Geldprobleme haben wir alle guten Wissenschaftler verloren. Das Gehalt war so niedrig, daß es für sie einfach unmöglich war, damit auch zu leben. Dieses Jahr ist die Situation ein wenig besser, wir verstehen die Bedingungen, und wir ersuchen das Ausland um Hilfe. Wir versuchen, in internationale Projekte zu kommen, verstehen dabei aber auch, daß wir nur eine Rolle als Informant haben. Wir machen nicht die Forschungsarbeit, sondern sammeln nur Informationen über die Baltischen Staaten – es bleibt uns keine andere Möglichkeit.
TEXT
Die Gewinner sind die Büro-Consulting-Firmen, nicht unwesentliche Teile der Geldmittel einer Osteuropahilfe gehen in den Gehältern der Consulter auf. Dr. Raite Karníte beschäftigt sich in ihren Studien auch mit der Einstellung der Frauen zur Familie, Arbeit und Bildung in Lettland. Und das ist neu in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion.
ATMO Tallinn
TEXT
Das dringendste Problem wird wohl sein, die Wirtschaft in den Griff zu bekommen. Unzählige Klein- und Kleinstunternehmen entstehen. Fast jeder geht neben seiner regulrären Tätigkeit Nebenbeschäftigungen nach. Am Burgberg in Tallinn verkauft Georg Halling Fotos aus Estland.
OT Fotograf
No, was kann ich sagen, ich bin ein Kapitalist. Meine Fotofirma besteht aus zwei Personen. Ich und mein Pudel. Mein Pudel frißt Fleisch und ich arbeite, und ist meine Buchhalterin. Mittel des Monatslohn ist jetzt 900 Kronen, das ist 120 Mark, in diesem Jahr habe ich Rente bekommen, jetzt darf ich nicht mehr arbeiten, 300 Kronen, das ist etwa 35 Mark für eine Monat. Und Sie fragen wie geht es Ihnen. Ich bin zufrieden. Wir sind frei, jetzt kann man reisen. Das ist so schön. Vorher wohnten wir in Sowjetunion wie in einem Lager, natürlich eine große Lager.
TEXT
Herr Halling wurde 1936 geboren, sein Großvater war Norweger. Warum er so gut Deutsch spricht?
OT Fotograf
Das habe ich selbst studiert. Ich habe ein wunderschönes Buch, das heißt Deutsch bei Schallplatte für ausländische Dumme, extra, und so jeden Tag vor dem Schlafengehen eine halbe Stunde, ich lese Text und höre Hochdeutsch. Ich mache viele Fehler, ich weiß das, in Estnischer Sprache gibt es keinen Artikel, und in Deutsch gibt es keine Regel, alles ohne Logik. Der Mann, die Frau, das Mädchen. Mädchen ist doch keine Dinge. Ich habe ein Hilfe, sie ist steinalte baltische Deutscherin, von Zeit zur Zeit ich kaufe Kuchen, wir sitzen beim Kaffeetisch oder Teetisch und sprechen Hochdeutsch, Baltisches Hochdeutsch. Einmal frage ich sie, Frau Stadler, wenn ich bin fleißig und studiere weiter in diesem Tempo, wann kann ich endlich so perfekt Deutsche Sprache wissen, wie ein perfekter Hochdeutscher. Ich habe ein nettes Kompliment bekommen: Herr Halling, keine Sorge, ich glaueb es nimmt nicht mnehr Zeit wie in halbes Jahrhundert. Wie kann man studieren? Aber Sie haben fast alles verstanden, ja?
TEXT
Mit den neuen Touristen wird das Geschäft mit den Ansichten Tallinns nicht unbedingt besser. Georg Halling weiß genau warum.
OT Fotograf
Sie haben Ihren Lebensstandard überentwickelt. Jeder hat eine gute Kamera mit, die besten Touristen kommen aus der ehemaligen Sowjetunion, sie haben immer eine Kamera mit, sie funktioniert nicht immer, oder es gibt keinen Film, oder keine Batterie, sehr nette Touristen, aber Geld haben sie auch nicht. Na schön, ich wünsche Ihnen alles Gute und das nächste mal bitte keine Batterie mit.
TEXT
Am Fuße der orthodoxen Kathedrale wartet eine Reihe von Menschen auf die Besucher. Für die Tallinner ist es Brauch, jeden von ihnen eine kleine Münze in die Hand zu drücken, die ausländischen Besucher drücken sich an der Schlange vorbei. “Alltägliche Gottesdienste” steht auf einem Schild auch in deutscher Sprache angeschrieben.
Die wirtschaftliche Eigendynamik schafft Schwierigkeiten, der Markt wird von importierten Produkten überflutet. Dr. Raia Karníte aus Riga:
OT Wirtschaft
Unser Zoll arbeitet sehr schlecht. Importierte Güter sind mit keinen Steuern oder Importzöllen belegt. Mit dieser Konkurrenz sieht es für die lettischen Produkte schlecht aus. Die Produktionskosten sind hoch, es ist billiger, zu importieren. Und es wird immer mehr importiert. In dieser Konkurrenz müssen die lettischen Produkte einfach gewinnen!
TEXT
Wunsch und Wirklichkeit liegen jedoch in vielen Bereichen weit auseinander. Es ist eine Sache, zu wissen, wie etwas funktionieren könnte, eine andere, diese Vorstellungen zu verwirklichen.
OT Wirtschaft
Nehmen wir zum Beispiel das Staatsmonopol auf Alkohol. Es ist schwierig, dieses Monpol auf dem Markt auch zu sichern. Das Monopol existiert in Wirklichkeit nur, wenn sich Polizisten am Markt aufhalten. Und die sind nicht so oft dort, nur eine Stunde pro Woche. verstehen Sie mich richtig, das ist der Schutz unseres Marktes. Wir wollen das machen, können aber nicht. Wir haben geschriebene Normen für alles, in der Theori wissen wir, wie alles zu machen ist!
AMTO Markthalle
TEXT
In der Rigaer Markthalle ist reger Betrieb. Jene, die etwas zu verkaufen haben, flitzen an ihren Ständen emsig umher. Wo es günstigen Angebote gibt, warten in einer Reihe die Käufer. Vor der Halle wird aus Lastwagen heraus Brot, Milch und Zucker verkauft, unzählige Händler verkaufen nützliches und wertloses, und auch die obligaten Plastiksackerl aus Österreich. Ist es hier teuer, einzukaufen?
OT Markt
Nein, das würde ich nicht sagen. Wenn man die Preise am Markt mit denen in den Geschäften vergleicht, ist es hier billiger. Geschäfte sind teurer. Das war normalerweise umgekehrt. Grundsätzlich gibt es hier mehr Auswahl. Ich gehe lieber zum Markt.
TEXT
Es sei jedenfalls billiger als in Moksau oder London, meint der Begleiter.
ATMO Glücksspielautomaten
TEXT
Die Halle mit den einarmigen Banditen ist erfüllt von Rauchschwaden. Die Gewinner sind wie üblich die Betreiber, und die bestimmen mit BMW, VOLVO und Mercedes auch die Straßenverkehrsordnung. Die Größe des Geldbeutels bestimmt den Grad des Vorangs, erzählt ein Passant. Ein Veteran der sowjetischen Armee, behängt mit unzähligen Abzeichen und Ordnen, verkauft russische Zeitungen, auch er macht sein Geschäft.
TEXT
Die Zahl der Besucher steigt ständig, die Tourismusbranche verzeichnet hohe Zuwachsraten. Viele Exilletten und Exilesten besuchen nun erstmals ihre Heimat wieder .
OT Australier
Ich besuche meine Verwandten in Riga. Es gibt Australier, die sich hier ansiedeln, aber ich selbst werde das nicht tun. Ich kann mich an alles erinnern, ich bin hier zur Schule gegangen, habe an der Universität studiert. Es gibt natürlich viele Veränderungen, vor allem in den Vororten, diese monströsen Wohnhausanlagen, die sind hässlich. Aber hier im Zentrum ist praktisch alles beim gleichen geblieben.
TEXT
Wirtschaften ist die eine Seite – Die soziale Infrastruktur zu sichern, die andere, das ist die Aufgabe des Staates. Derzeit werden die Kompetenzen des Staates und der lokalen Regierungen neu verteilt. Oft werden Einrichtungen privatisiert und damit teuer, die früher kostenlos waren. Die kostenintensive Infrastrutur zu unterhalten – zum Beispiel der öffentliche Transport – das bleibt den Gemeinden.
OT Wirtschaft
Früher wurde die ganze Infrastruktur von den Produktionsgenossenschaften betrieben. Jetzt ist das alles in den Händen der Gemeindeverwaltungen. Die Gemeinden haben aber größte Probleme mit der Finanzierung dieser Einrichtungen.
Die Gemeinden sind sehr unterschiedlich, haben verschiedene Einwohnerzahlen, sind arm oder nicht arm, sie haben unterschiedlich viel Geld zur Verfügung.
Unser Staat hat jetzt das zweite Jahr ein Budegetdefizit, die Verteilung der Einnahmen an Staat und Gemeinden ist sehr umstritten. Das Hauptproblem für die Enwicklung der ländlichen Gebiete ist, daß es nicht genügend Geld für eine Entwicklung gibt.
TEXT
Ausländische Investoren werden eingeladen, Joint Ventures zu gründen, in Estland oder Lettland zu investieren. Die Klärung der Besitzverhältnisse von Boden und Gebäuden ist noch immer nicht abgeschlossen. Rota Schnuka beschäftigt sich mit Raumplanung:
OT
Aber was machen Sie, wenn Fabrik dort steht. Viele einheimische Investoren und einheimische Investoren warten was kommt, vielleicht kommt Eigentümer: “Guten Morgen”, sammeln Sie ihre Fabrik und verschwinden Sie, ich wollte Erholungsort. Das ist ganz typisch.
TEXT
Von österreichischer Seite her ist es vergleichsweise ruhig im Baltikum. Dabei hätten diese Staaten viel Ähnlichkeit mit unserem Land.
OT Konsul
Für ein Land wie Estland sind die Investoren aus Österreich wahrscheinlich wichtiger als Investoren aus großen Industrienationen, weil die Verhältnisse eher vergleichbar sind – Was Estland braucht, sind mittelständische Industrie und da könnten die Österreicher den Esten viel Rat geben und Hilfe leisten.
TEXT
Auf universitärer Ebene werden bereits erste Kontakte geknüpft. Für Jurastudenten gibt es Austauschprogramme mit der juridischen Fakultät der Universität Tartu. Und in Riga treffen wir am geographischen Institut eine Studentengruppe, die sich ebenfalls auf baltische Spurensuche begeben hat.
ATMO Begrüßung
OT Sauberer
Ich muß dazu sagen, daß ich mich seit meiner Studienzeit intensiv mit Osteuropa auseinandergesetzt habe, und daß ich mich jetzt gerade mit jenen Bereichen, die von den Österreichern aus gesehen, ein weißer Fleck auf der Landkarte sind, sehr intensiv befasse. Daazu gehören die baltischen Staaten, die mit Österreich sehr viel Ähnlichkeit haben. Umso bedauerlicher ist es, daß von österreichischer Seite kaum irgendwelche Initiativen vorangetrieben werden, um mit diesen Kleinstaaten – wie Österreich auch, eine bessere wirtschaftlich und kulturelle Zusammenarbeit einzuzleiten.
TEXT
Die Deutschen gingen im Baltikum bereits ein und aus, in Österreich fehle es aber von universitärer Seite an Informations- und Organisationskanälen. Und: Fehler im Verständnis für das richtige Benehmen als Gast gäbe es viele.
OT
Ja ich finde, daß es unfair ist, mit einem Billigkflug in ein Land zu kommen, und den großen Experten zu spielen. Eine echte Kritik an einer Region kann man nur dann machen, wenn man die Region sehr intensiv kennt, wenn man Teil der Region ist, dh in der Lebenwelt in der Region auch gewohnt hat usw, und ich glaube, daß es die Aufgabe ist, solche Kritik inden Heimatregionen anzuwenden, aus denen man kommt. In den anderen Regionen, die man nicht so genau kennt, eher zu versuchen, konstruktiv den Vergleich zur Heimat darzustellen und eben mögliche positive Ansatzpunkte darzusellen, aber in keinem Fall voreilig zu kritisieren, und auch die Wortwahl genauestens zu kopntrollieren, denn eine falsche Wortwahl in einer Diskussion mit den Fachleuten dieser Region kann schon sehr viel Mißstimmung bringen kann, und das passiert ja bei den Geschäftskontakten und anderen Kontakten immer wieder.
TEXT
Rudite Kalpina schreibt in ihrer “Lettischen Grammatik”
SPRECHERTEXT
Sogar die Ausländer fallen einem schon auf die Nerven, wenn sie in belehrendem Ton von den Demokratien des Westens erzählen und einwerfen: ach, ihr mit Eurem osteuropäischen Nationalismus – und nach einer Stunde sagen sie, könnte nicht jemand mitkommen, wir wollen nicht im Hotel essen, aber mit Russisch kommen wir nicht zurecht!
TEXT
Wie sieht nun die Zusammenarbeit der baltischen Staaten untereinander aus? Trotz der Pläne für eine gemeinsame Freihandelszone seien Estland, Lettland und Litauen doch zu unterschiedlich, um eine gemeinsame Sprache zu finden, meint Prof. Henn-Jueri Uibopuu.
OT Konsul
Jedesmal wenn Gefahr im Verzug ist, treffen sich die Präsidenten, treffen sich die Generalstabschefs, treffen sich die Premierminister. Und in dem Moment in dem die Gefahr gebannt ist, geht jeder den eigenen Weg.
OT Konsul
Man könnte jedenfalls wesentlich mehr machen, aber hier sind die drei batlischen Staaten zu viel Individualisten, und komischerweise verstehen sich die Esten und Litauer sehr gut, weil sie keine gemeinsame Grenze haben, ach, man versteht sich auch mit den Letten gut, ich bin selbst in Walk groß geworden, an der lettischen Grenze, wir haben auch lettische Freunde gehabt. Nur wirft man es auf höchster politischer Ebene den Letten vor, daß sie mit der Verteilung von Zuneigung etwas übereilig sind.
TEXT
Andererseits wirft man es den Esten vor, daß sie es mit der Verteilung von Zuneigung nicht so eilig haben.
OT Konsul
Ja, bitte, die Esten sind sehr stur, und die Esten und Finnen sind halt nordische Völker. Und die Letten und Litauer sind Indogermanen, die Esten nicht.
ATMO Rockmusik
TEXT
High-Noon auf dem Burgberg zu Tallinn.
Sind Estland, Lettland und auch Litauen in ihren Eigenheiten grundverschieden, so wurden diese Staaten spätestens seit der neuen Unabhängigkeit wieder zum Teil Europas. In ihrer Entwicklung kennen sie die selben Probleme. Auch der große Nachbar Rußland wird einen ähnlichen Weg gehen. Eine gewagte Perspektive: vielleicht wird St. Petersburg wieder ein Zentrum des osteuropäischen Raumes werden – mit den baltischen Staaten. Auf dem Weg dorthin wird man dann auch vor allem eines brauchen: Sensibilität.