Offener Brief an die Teilnehmerlnnen der Übungen zu […]
Es ist Ihnen vermutlich allen aufgefallen, daß ich bei der Organisation der Übungen zur Vorlesung […] keine wie immer gearteten büokratischen Maßnahmen getroffen habe, um Ihre Anwesenheit sowohl in der Arbeitsphase als auch vor allem bei den Plenumsveranstaltungen zu kontrollieren. Ich bin nämlich (nach wie vor) der tiefen Überzeugung, dass
i) die Universität ein Ort nicht nur der geistigen, sondern auch der persönlichen menschlichen Freiheit aller ihrer Angehörigen sein und bleiben muß und daß
ii) ich durch genügend intensives Engagement in der Lehre zu guter Letzt auch diejenigen unter Ihnen, die augenblicklich noch den von mir bewußt geschaffen Bereich minimalen Zwanges ausnützen, um sich der mühseligen Aufgabe einer individuellen Weiterbildung durch äußere und innere Emigration zu entziehen, durch meinen persönliches Vorbild begeistern und dadurch zum Ausharren und Durchhalten bewegen kann.
Zur Bildung, insbesondere zur naturwissenschaftlichen, führt kein Königsweg, sie erfordert Zeit, Geduld und oftmals eine gewisse Härte gegen sich selbst. Nur wenn Sie eben diese Einstellung den Ihnen anvertrauten Schülerlnnen aktiv vorleben, können Sie gute Lehrerlnnen werden, welche Jugendliche durch Ihr eigenes Beispiel begeistern und damit erziehen.
Der kommentarlose Massenexodus von rund der Hälfte der Teilnehmerlnnen an der letzen Übungsstunde […] hat mir leider schmerzlich vor Augen geführt, daß mein grundlegender pädagogischer Ansatz im Rahmen des von mir persönlich einge- führten didaktischen Modells der Lehrerlnnenbildung an der Universität Wien zum ersten Mal (nach über zehn Jahren Aktivität auf diesem Gebiet) im wesentlichen an der Unzulänglichkeit der menschlichen Natur und damit an der Wirklichkeit gescheitert ist.
Ich habe einfach nicht genügend Zeit, solange in Geduld und unter Verzicht auf jegliches äußeres Disziplinierungsmittel auf Sie pädagogisch einzuwirken, bis Sie alle ohne Ausnahme die für Ihren späteren Beruf nötige charakterliche Reife erworben haben. Dabei bin ich mir sehr wohl bewußt, daß etwa die Hälfte aller Übungsteilnehmerlnnen diese Reife langst besitzt. Bei dieser letztgenannten Gruppe von Menschen mochte ich mich daher entschuldigen, wenn ich auf Grund der Verbitterung über mein persönliches Scheitern zu ganz unzulässigen Pauschalurteilen neige. Ich mochte durch meinen Brief bewirken, daß bestimmte Kolleginnen – wer das genau ist, kann niemand entscheiden außer sie selbst ganz persönlich – sich betroffen fühlen und beginnen, über ihre eigene Einstellung zu Bildungsarbeit und Selbsterziehung ein wenig nachzudenken.
Wenn sich etwa die Hälfte der Arbeitsgruppen gleichzeitig und quantitativ entfernt, ohne ihre Absicht vorher irgendwie zu artikulieren, läßt sich naturgemäß eine sinnvolle Kommunikation zwischen Übungsleiter und Studierenden nicht mehr aufrechterhalten. Ware ich ein verantwortungsbewußter Politiker, würde ich angesichts meines Scheiterns in und an einer derartigen Situation meinen Hut nehmen und zurücktreten.
Sie müßten sich dann selber um eine entsprechende Bildungsmöglichkeit kümmern. Ich vermute allerdings, daß sich etliche unter Ihnen überhaupt nicht bewußt sind, was Sie in Ihrem zukünftigen Beruf wirklich dringend brauchen. Erst wenn es zu spät ist, wenn Sie also bereits vor einer Schulklasse stehen, wird Ihnen dann (hoffentlich) klar werden, was Sie leichtfertig versäumt haben, solange Sie im Studium noch frei von den Sorgen des täglichen Kampfes mit der Institution Schule und der Auseinandersetzung mit einer (manchmal bedrohlich wirkenden) Generation von Jugendlichen waren; von Jugendlichen, die Ihnen anscheinend vielfach – aus für Sie meist nicht einsehbaren Gründen – Desinteresse oder sogar Ablehnung entgegenbringen können.
Ich glaube nicht, daß es sehr viele andere Lehrveranstaltungen gibt, welche andauernd um das Problem der (für beide Seiten lustvollen) Vermittlung von Physik an (äußerlich!) scheinbar gelangweilte oder sogar opponierende jugendliche Laien kreisen. Offenbar spielt ein solches Argument aber im pädagogischen Spannungsfeld der Universität für die Gestaltung des Zeitplanes vieler Kolleginnen keine wesentliche Rolle.
Nun kann ich aber nicht, ebensowenig wie einmal Sie als künftige Lehrerlnnen, von meiner Verpflichtung, diese Übungen weiter abzuhalten, von irgend jemandem entbunden werden. Ich stehe also naturgemäß weiter zu Ihrer Verfugung. Allerdings spiele ich Ihnen jetzt den Ball der Verantwortung zu, Ich fordere ganz explizit und bewußt von Ihnen eine Stellungnahme zu allen jenen Fragen, die ich auf dem beigefügten Blatt zusammengefaßt habe. Ich erwarte von Ihnen eine ehrliche Antwort, welche Sie bitte mit Ihrer persönlichen Unterschrift bestätigen sollen. Ich bestehe auf der Vollständigkeit Ihrer Ausführungen und werde keine einzige der gemachten Angaben weiter überprüfen, weil ich kein Untersuchungsrichter bin. Ich werde Ihren Aussagen bedingungslosen Glauben schenken und bin überzeugt, daß Sie mich nicht belügen.
Auf Grund der von Ihnen gemachten Angaben werden wir in der nächsten Übungs- stunde eine neue, präzise Geschäftsordnung der Lehrveranstaltung […] kurz diskutieren. Ich werde das für alle bindende Resultat dann schriftlich festhalten und an Sie verteilen, damit es in Hinkunft keine weiteren Mißverständnisse gibt. Ich bedaure die Notwendigkeit eines solchen, zutiefst bürokratischen Schrittes, der bei einer offenen und ehrlichen Kommunikation zwischen uns sicher vermeidbar gewesen wäre, aus ganzem Herzen, sehe aber in meiner pädagogischen Hilflosigkeit keinen anderen Ausweg.
Mit freundlichen Grüßen,
[…]