In Österreich schreiben Schüler:innen während der letzten eineinhalb Schuljahre eine wissenschaftliche Arbeit. Ganz zu Beginn finden sie ihr Thema und machen einen Vorschlag, wie genau sie es bearbeiten werden. Das Ganze braucht ein hohes Maß an Kommonikationskompetenz zwischen ihnen, ihren Eltern, den betreuenden Lehrer:innen, der Direktion und sogar über die Schule hinaus in Richtung Unterrichtsministerium. In meiner derzeitigen Arbeit habe ich mir mit der Direktion die Vorschläge für die Arbeiten näher angeschaut: sie werden “Erwartungshorizonte” genannt und sind nicht nur ein Spiegel der Schullaufbahnn zuvor. Hier sind meine Eindrücke.
Insgesamt sind unter dem ersten Teil der gelesenen Vorschläge – 25 Arbeiten:
1) Viele spannende Arbeiten, weil
* bei den Themen oft der Lokalbezug hergestellt wurde
* in der ersten Vorauswahl die Themen offenbar bereits gut ausgewählt und gefeedbackt wurden (diese Arbeit zahlt sich aus)
* die Relevanz in den persönlichen Impulsen sehr nachvollziehbar beschrieben wurde und
* dieser persönliche Impuls zwar oft mit “Seit ich ein Kind bin interessiere ich mich …” beginnt, aber daran nichts auszusetzen ist, weil was denn sonst könnte das persönliche Interesse besser argumentieren als das ganze bisherige Leben
2) Wir haben an allen Vorschlägen noch etwas geknetet und zum Glück immer etwas gefunden, was noch verbessert werden könnte – und zwar in der Intensität von “viel” (Änderungen sind notwendig, um die Arbeit erfolgreich durchführen zu können), bis “mittel” (etwas Wesentliches sollte noch ergänzt werden), bis zu “Kleinigkeiten” (Formulierungen/Aspekte ein bisschen klarer machen). Die Schüler:innen erhalten einige Wochen (viel), zwei Wochen (mittel) und eine Woche (bei geringen Änderungen) Zeit, um diese Überarbeitungen gemeinsam mit den Betreuungslehrer:innen durchzuführen. Es wäre wichtig, diese Änderungen nicht als Mäkelei zu sehen, auch wenn in den Kommentaren von uns steht “… ist zu ergänzen”, sondern als den Wunsch und die Hilfe, die Arbeit zu ermöglichen, oder eben durch Kommentare und Wünsche aus Außensicht auf den “nächsten Level” zu heben. Das “A“ in VWA bedeutet für mich auch genau diese Auseinandersetzung und Kommunikation.
Bei den Quellen im Erwartungshorizont bitte immer den Ort des Verlags angeben, bei den Internet-URLs das Datum des Zugriffs. Das hat relativ oft gefehlt und ist für uns relativ mühsam, in den Feedbacks zu ergänzen.
Wir haben bei unserer Durchsicht sehr gut darauf geachtet, dass im Strauß aller Leitfragen auch eine eigenständige Frage vorkommt, die mit einer eigenen Methode auch selbst beantwortet wird, und die eben nicht von einer Quelle beantwortet und abgelesen wird.
Tipp: Oft ist so eine Frage durch “Vergleich zweier Projekte, Beschreibung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden” ganz leicht herstellbar. Die im Erwartungshorizont vorgeschlagene Methode soll sich dann wirklich auf diese Frage beziehen und sich auch in der Gliederung (meist vor dem letzten Punkt Schlussfolgerungen/Diskussion) finden. Eine Frage – eine Methode ist aufregend genug.
3) Einige Detailbeobachtungen noch:
* Die allermeisten Arbeiten werden derzeit mit der Methode “recherchieren im Internet/in Büchern” bearbeitet. Es wäre schön, wenn wir ein bisschen mehr die Vielfalt der Methoden der einzelnen Fächer abbilden können. Das wird vermutlich in den Schuljahren vorher schon vorbereitet werden können, indem Aufgaben gestellt werden, die nicht mit Büchern, sonder durch Hinschauen / Fotografieren / Kartieren / Beobachten / Zeichnen / Zählen etc. zu lösen sind. Eine Liste von 33 Methoden habe ich hier zusammengestellt: https://www.phyx.at/vwa/
* Manchmal merkt man den enthusiastischen Zugang zu einem Thema – die Welt soll von den Ergebnissen erfahren, weil sie wichtig sind. Das ist in den persönlichen Impulsen fein, sollte aber dann durch neutrale Formulierungen in Gliederung und Leitfragen ersetzt werden. Bsp: „Warum ist die Bauindustrie so schädlich für…“ -> „Was sind die Auswirkungen der Bauindustrie“.
* wenn jemand „spannend“ schreibt, ist es immer interessant, was genau damit gemeint ist. Das auch einzufordern ist ein Service an unsere Studierenden, auch wenn sie das unter Umständen als Zumutung empfinden
* Partnerorganisationen sind immer eine Möglichkeit, Verbindungen herzustellen. Warum nicht auch ein bisschen an Bord holen. Bei Interessensgruppen wird man etwas vorsichtiger sein, aber Verbindungen gestalten unser Leben, warum nicht auch Verbindungen gestalten.
Meine persönlichen Tipps für das Arbeiten in verfahrenen Betreuungssituationen:
1) Mal nicht vom Thema auszugehen, sondern von den vielen verschiedenen Forschungsmethoden: Wie möchte ich arbeiten und dazu eine Frage zu suchen/finden/formulieren. Das Arbeiten an der Frage muss erklärt werden: es ist schön, diese Frage so lange anzupassen, bis sie perfekt passt und man weiß, dass sie funktionieren wird.
2) Mal nicht das Thema einzugrenzen, sondern auszuweiten: von der einfachsten und langweiligsten Frage aus dem Themengebiet aus, um diese dann vorsichtig zu erweitern, bis es in kontrolliertem Terrain spannend wird.
3) Persönliche Betroffenheit (bei Krankheiten) sind immer noch ein Ausschließungsgrund für das Thema.
4) Darauf achten, dass das Thema so formuliert ist – es steht ja im Zeugnis – dass ein:e zukünftiger Arbeitgeber:in es gut verstehen kann, es soll Anlass zur Kommunikation bieten: “Das ist ja spannend, was haben Sie denn da genau gemacht?”
Ich finde, dass die VWA nicht zu sehr durch Regeln bestimmt werden soll, die im Vordergrund stehen. Sie gehören meiner Meinung nach in den (notwendigen) Hintergrund. Im Vordergrund steht die Freude an einer eigenen Fragestellung, die man mit einer netten Methode selbst beantwortet. Die Sicherheit, dass das zwar mit Risiko, aber nie mit Verlust verbunden ist, wäre eine schöne Aufgabe durch uns Lehrer:innen im Laufe der ganzen Schulzeit zu vermitteln.