An die Ränder der Komfortzone. Dorthin, wo die Schmerzgrenzen sind. Darum geht es in dieser Episode. Im zweiten Teil ein Interview mit dem Komponisten Periklis Liakakis über sein Stück mit dem Titel “Tinitus”.

Das hätte sich Elisabeth für diese Einheit vorgestellt – geworden ist es dann wie immer etwas anders.

Sweet ( 1971) von Luis Andriessen, Interpretin Elisabeth Haselberger, Konzertdiplom Zürich im Jahr 2000

USHER – The Revenge of Madeline – Trailer
Für einen Ton bestimmter Frequenz gibt es eine untere und eine obere Grenze innerhalb er für das menschliche Gehör wahrnehmbar ist. Untere Hörgrenze = absolute Hörschwelle = sehr stark von der Frequenz abhängig. Obere Hörgrenze = Schmerzgrenze = ab dem Schalldruck keine Hörempfindung mehr sondern Schmerzempfindung = Frequenzabhängigkeit nicht so relevant.
Hören: Physiologie, Psychologie und Pathologie – Jürgen Hellbrück, Wolfgang Ellermeier, Hogrefe Verlag
Lothar könnte  als Physiker die Begriffe erklären:
Dezibel | Phon | Frequenz | Hertz | Schalldruck | Amplitude | Sinuston
Einspielung von Sinuston 1kHz mit Dual Pitch Stifter -23/+35 Cents, war Pausenton bei Elisabeth´s Interpretation von L.Andriessens “Sweet”
– Publikumsreaktion u.a. “Hatte Angst dass ich einen Gehörsturz habe…”
LIVE aus Gabriele Mannas <Secondo congegno del sole passante> für verstärkte Sopran und Sopraninoblockflöte, Tape und live-Elektronik (1994)
deutsch: Sternengucker der untergegangenen Sonne
kurze Passage auf der Sopranblfl. min 5, min 6’10” bis Ende ca.min 8
Hörlink Giorgio Netti – “quì” for sopranino recorder (written for Antonio Politano)
LIVE Demonstration der Sopranino
Hörhausaufgabe von 04
1:22:07 vom Eröffnungskonzert Übertragung 14.10.2016 | 20.03 Uhr | SWR2 Donaueschinger Musiktage 2016
http://www.swr.de/swr-classic/donaueschinger-musiktage/programme/schedl-klaus-blutrausch/-/id=2136962/did=17772422/nid=2136962/gf4zdp/index.html
Klaus Schedl. Blutrausch für Orchester und Elektronik (UA). SWR Symphonieorchester,  Experimentalstudio des SWR, Moritz Eggert – Gesang. Leitung: Pierre-André Valade.
Inhalt Thema Gewalt, alle Instrumente mit Tonabnehmer, Noise – Metall Sound, Körperlichkeit des Klangs, +Sänger, politische Musik, Genuss? – Zwiespalt mitkomponiert, Widerspruch von minutiösen Technik und Notation zum Noise Klang/Punk Band Ästhetik
Blutrausch
Klaus Schedl – geb.1966 in Stuttgart
Musik als Mysterium
Zentraler Aspekt meines OEuvres ist die Verwendung von Klangmaterialien, die der Umgebung abgehört und in diesem Sinne dem Jetzt verpflichtet sind. Dementsprechend besteht keine Differenz zwischen Musik und Geräusch, zwischen tonal und atonal. Alles ist Klang der Gegenwart und hat als Teil der Komposition Bestand. In meinen jetzigen Werken verfahre ich nach einem Prinzip der Abschälung, in dem das Werk gewissermaßen aus einer Überfülle von Material herausgebrochen wird. Schichten von unzähligen Klangsplittern werden übereinander gestapelt, und aus diesem extrem verdichteten Klangteppich kristallisiere ich nach und nach das eigentliche Werk heraus. Aus dem Bewusstsein heraus, dem blinden Glauben an den Rationalismus einen Gegenpol bieten zu müssen, verweigere ich mich einer geplanten Strukturlegung im Vorfeld der Komposition. Vielmehr wird das Werk der von den Klangsplittern selbst evozierten Struktur abgelauscht, in einem andauernden Hörprozess, der sich dem Material bewusst ausliefert. Ich kann mich also nur der eigenen Wahrnehmung als Entscheidungs- und Strukturkriterium bedienen. Dadurch entsteht eine Musik, die sich Prinzipien des Dilettantismus öffnet und eine konzeptionelle Überstrukturierung zurückdrängt.
Anlass meines Stückes Blutrausch war ein Artikel in der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft über eine Feldstudie von Psychologen der Universität Konstanz, die sich mit dem Thema Gewalt im Kongo beschäftigte. „Ich vermisse es, ein Kämpfer zu sein. Ich vermisse die Macht! Manchmal habe ich Menschen nur zum Spaß getötet. Andere taten das auch. Blut kann einen mitreißen. So sehr, dass man nicht mehr aufhören kann zu töten.“ So sagte ein ehemaliger Kindersoldat in einem Zeltlager der UN. „Bei ehemaligen Kombattanten in verschiedenen Kulturen konnten wir immer wieder beobachten, dass das Ausleben von Gewalt als lustvoll erlebt wird. Allen Hollywood-Klischees zum Trotz sind diejenigen, die töten, in der Regel nicht psychisch krank. Planen und Ausüben von Gewalt als ‚appetitiv‘, also als angenehm zu erleben, gehört zum Menschsein dazu.“
Ich habe mein Stück in drei Teile gegliedert. Wort Erkenntnis Tat. Das Wort äußert sich in der Predigt. Die Predigt ist mit ihren giftspeienden Worten, bei der der Intellekt Gehilfe der hasserfüllten Emotion ist, die Basis für die spätere Tat. Die Entmenschlichung des Gegenübers ist das Ziel. Ohne sie kein Massaker. Diese Worte formen eine Erkenntnis des Schreckens, die sich im Massaker orgiastisch und exzessiv entlädt. Hier ist nichts feinsinnig und leise. Es ist roh, laut, ungeordnet, körperlich, ohne Regeln und unerträglich.
Wo liegt unsere individuelle musikalische Schmerzgrenze? Welche Musik überschreitet Deine persönliche Schmerzgrenze? Abgesehen von den physisch grenzwertigen Erlebnissen – welche Art von Musik? Wo endet deine musikalische Toleranz?
Neben einem gewissen Limit in puncto Lautstärke, über dem Menschen die Flucht ergreifen, haben wohl viele Hörer musikalische Toleranzgrenzen.
Musikalisch intendierter Krach, »harte« Musik aller Art und das, was gemeinhin unter »Noise« klassifiziert wird, markiert oft eine solche Grenze. Wie goutierst Du derlei klangliche Extreme? Es gibt aber wie angesprochen noch eine andere, rein ästhetisch fundierte Art des musikalischen Missfallens: Wie sehr knirschst Du mit den Zähnen, wenn es gilt, nervtötende Musik XY im Fernsehen oder anderswo zu ertragen? Wo kannst Du dir partout nicht zusammenreimen, wie mensch so etwas gut finden kann?
Quelle: www.delamar.de
Einsteins Violine: ein musikalisches Sammelsurium – Winfried Bönig, Tilmann Claus
< Musik wird störend oft empfunden…>   S 1958
Lärmbelastung in dB Max.Dauer Pro Woche ab der ein dauerhafter Hörschaden auftritt

  • 20-40 dB Blätterrauschen
  • 40-65 Zimmerlautstärke
  • 85 Mittlerer Straßenverkehr 40 Stunden
  • 95 Schwerlastverkehr 3 Stunden
  • 80-100 Orchestergraben
  • 100 Presslufthammer 1 Stunde
  • 110 Rock/Popkonzert 7 Minuten
  • 120 Schmerzgrenze 45 Sekunden
  • 130 Düsentriebwerk

Seit 2008 eine EU-Richtlinie zum wirksamen LärmSchutz von Musikerohren.
Gesundheitliches Risiko von Orchestermusikern. Bei groß besetzten Partituren der Romantik und der Neuen Musik entstehen im Orchestergraben der Opernhäuser aber auch in den Konzertsälen Lautstärken, die als gesundheitsgefährdend eingestuft werden. So ist der Schallpegel im Orchester mit dem von Schwerlastverkehr vergleichbar.
Galina Ivanovna Ustvol’skaja: Komponieren als Obsession, 
Böhlauverlag 2013
S151-154 Kumulation extremer Ausdrucksmittel

AUSZÜGE daraus:
Das augen- und “ohren”scheinlichste Merkmal der Musik G.U. ist sicherlich die außergewöhnliche Häufung extremer Ausdrucksmittel….obsessive Ausreifung bestimmter Stilmittel…auffälligste Bereich der zahlreichen kompositorischen Mittel die Dynamik.
Z.B. Frühes Werk für Klavier, Streichorchester und Pauken (1946) vom dreifachen Piano bis zum vierfachen Fortissimo, in anfänglichen Werken Dynamik großflächig eingesetzt, oftmals im Rahmen von konventionellen Steigerungsprozessen. Im weiteren Verlauf der Werke oft als obsessiv zu bezeichnende Passagen, extreme Lautstärke über weite Strecken, z.B. hämmerndes ffff des Pianisten, scharfe Kontraste, Aufführungsanweisungen wie : expressivissimo…Ausgedehnte Klangkaskaden, z.B. Pianistin mit Knöcheln der linken Hand 141mal einen 4-tönigen Cluster im Bereich fff-ffffff, mit wenigen sehr leisen Abschnitten konfrontiert, besonders Ausgeprägt in der Komposition Nr.2 ( 8 Kontrabässe, Holzkiste, Klavier) mit Untertitel >Dies irae>, mit ffffffsf-Klängen noch überboten, für Interpreten und Publikum auf das Äußerste gefordert. Galina Ustvolskaya – Composition №2 – YouTube
Viele Stücke erfordern von den Ausführenden außergewöhnliche körperliche und mentale Qualitäten, Abschnittsweise gehen die Werke wohl an die Schmerzgrenze -oder darüber hinaus, wenn man sich vorstellt, solche Passagen mehrmals zu üben.
Die Tendenz zu dynamischen Extremen lässt sich in verschiedenen Bereichen der Kompositionsgeschichte seit der Mitte des 20.Jhdt. beobachten.
Ein Sammelband von Dörte Schmidt mit dem Titel Hörstürze.Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert beschreibt eine Reihe von akustischen Überschreitungen im Bereich der Neuen Musik, geltend auch für die Musik Ustvol’skajas.
…Ein Klang, der an der oberen Grenze der vom Instrument leistbaren Lautstärke gebildet wird, ist im gründe in ähnlicher Weise durch den Ausführenden unbeherrschbar, wie ein Klang in extremer Lage…extreme Lautstärke setzt die Bedeutung des Handwerks für die Erzeugung von Klang außer Kraft…—-Gegenteil im sehr leisen Bereich—-verändert das Verhältnis zum Hörer massiv, von kaum etwas kann man sich so schwer distanzieren wie von sehr lauten Klangereignissen, sie packen einen geradezu physisch.
…weiteres Extrem : die extrem hohe Anzahl an Wiederholungen, Deutung in Richtung Ritual nahegelegen…
…weiteres typisches Extrem die Konfrontation unterschiedlicher klanglicher Register, z.B. Bassregister der Tube mit ganz hoher Region in der Piccoloflöte
Interview mit  Frage an Periklis Liakakis:
WAS hat ein Komponist im Sinn, der sein Stück Tinnitus oder Dist(Ohr)tion nennt?
Hörhausaufgabe für 06
Ole-Henrik Moe: Ciaccona;
http://www.allmusic.com/album/ole-henrik-moe-ciaccona-3-persephone-perceptions-mw0001437945
Der Norweger Ole-Henrik Moe nennt sein ausschließlich geräuschhaftes Solo-Stück für Violine “Ciaccona”. Die barocke Gattungsbezeichnung verweist auf strukturelle Gemeinsamkeiten: Auch bei Moe entfalten sich die Oberstimmen über einer permanenten Bass-Grundierung, einer Art Bordunklang.
Wie das technisch geht? Man nehme drei nebeneinander stehende Notenpulte und mindestens anderthalb Meter breite Partiturblätter, die der Komponist im Laufe des Vortrags Schicht für Schicht abnimmt. Alles andere bleibt der Geigerin überlassen: ein 43 Minuten währender Kampf um die mikrokosmische Fülle, die scheinbaren “Einzeltönen” innewohnt. Ausgehend von Flageoletts, also Obertönen, lässt Kari Rønnekleiv mit dauervibrierenden Fingern die Klangspektren in weitere Einzeltonreihen aufbrechen. Das führt zu einem Tanz der Obertöne, auch das ein Verweis auf die Ciaccona als barocke Tanzgattung.


Foto: https://unsplash.com/@brenomachado


Nachtrag: Der angesprochene Schlager – Ruf’ Teddibär 14 – Jonny Hill


Diese Episode ist am 20.02.2017 erschienen. Dauer: 1 Stunde 23 Minuten und 57 Sekunden