Mangelnde Lesekompetenz ist ein Hauptthema gegenwärtiger Schulfragen. Hier einige Beobachtungen, Schlüsse und Vorschläge zur Verbesserung der Problematik.
Obiges Bild zeigt zwei Selbsteinschätzungen von SchülerInnen zum Lesen. Bei der ersten ist die Lust am Lesen und die intrinsische Motivation klar erkennbar, bei der zweiten scheint das “Viellesen” eine erstrebenswerte Leistung zu sein, die zwar gefordert, aber noch nicht erreicht wird.
Vier gute Gründe, zu lesen:
- Weil es ein Bedürfnis ist: Weil man etwas erfahren will. Textaufgaben im Mathematikunterricht erhöhen die Schwierigkeit und stellen daher vorderhand noch kein Bedürfnis dar.
- Weil es Vorbilder gibt: Wir lernen durch Nachahmen immer noch mehr als durch Anschaffen.
- Weil man damit berühmt oder reich werden kann: Wettbewerbe scheinen hier sicherlich einen gewissen Zweck zu erfüllen.
- Weil die erlesenen Welten sichere Orte sein können: Phantasiewelten laden heute durchaus anderswo ein, wo es früher “nur” geschriebene Heftchen und spannende Bücher gab.
Es gibt nun einige gute Gründe, warum schlecht gelesen wird. Viele der Gründe sind ablauftechnischer Natur, hier könnte man mit professioneller Unterrichts- und Lernumweltgestaltung viel erreichen. Viele der Gründe sind aber gehirntechnischer Natur, sie liegen in der Weise verborgen, wie das Gehirn den Sprung von der gehörten zur gelesenen Sprache macht. Wissen darüber hilft in besonderem Maße.
- Hören I: Im Alter von 5 Jahren können Kinder aus lesefernen Gruppen einen Rückstand von 30 Millionen gehörten Wörtern aufweisen. Gehörte Wörter sind jedoch die Grundlage für das spätere Lesen, sie sind wichtig für die Entwicklung des phonologischen Bewusstseins.
- Hören II: Die Harvard University hat herausgefunden, dass es in den Familien nahezu aller leseschwachen Kinder zu selten Tischgespräche beim gemeinsamen Essen gibt. Lesen beginnt vor dem Können mit dem Hören von Geschichten. Bei Migrationsfamilien sprechen Eltern und Großeltern oft eine andere Sprache. Wie soll ein Kind Vertrauen in eine Sprache entwickeln, in der er/sie der/die erste ist, der sie lesend beherrschen soll. Ein Sprachtrauma größter Natur mag hier in den Familien vorhanden sein.
- Hören III: In der Schule eignen sich die Lehrinhalte vieler Fächer nicht, um Wissen zu erwerben. Physik wird erzählt, diskutiert und erstritten, das Lesen von naturwissenschaftlichen Inhalten ist nur eine seltene Ausnahme und eignet sich sicherlich nicht, das Reden und Hören darüber zu ersetzen. Sokrates hat sich dagegen gewehrt, dass seine Dialoge aufgeschrieben werden.
- Hören IV: Zuhören wird oft mit Zustimmung verwechselt. In einer Zeit der Behauptung ist das tragisch. Und schon wieder fehlen einige Wörter in der persönlichen Sammlung.
- Angst: Mathematik wird im Fluchtgedächtnis gespeichert, wenn man sie mit Angst lernt. Die Angst vor dem Nichtverstehen der Angabe reicht aus, um kreativ und lebendig mit der geschriebenen Angabe umzugehen.
- Die Trennung von geschriebener und gesprochener Sprache: Eine der großen Tragödien der menschlichen Kulturgeschichte, nicht wegen der erfolgten Trennung, die die größten Chancen für die Weitergabe von Wissen darstellt, sondern der unüberlegte Einsatz der beiden Spracharten. Geschriebene Worte werden vorgelesen. Gesprochene Worte werden aufgeschrieben. Das kann nicht funktionieren. Wir erinnern uns, wie jemand von einem Lehrer schwärmt, den er/sie mal hatte: er/sie hat so gut erklärt. Nicht: er/sie hat so gut geschrieben. Das Hören steht an dieser bedeutenden Stelle.
- Faulheit und andere Umstände: Was man Kindern nicht erklären kann/will, das sollen sie lesen. Fehlende Individualisierung kann heute nicht mehr durch “lies das mal” kompensiert werden. Schulen, die Kinder in Stammklassen zusammenfassen, in denen die Klassen wie Kasernenzimmer aufgereiht sind, in denen die LehrerInnen nach Stundenrastern bezahlt werden, haben es auch bei der Leseförderung schwer.
- Der fehlende Genuss am Schreiben von Alltagstexten: Nicht alles ist Literatur. Geschrieben wird auch Alltägliches: Einladungen, Anleitungen, Aufgaben. Wenn diese schlecht geschrieben sind, werden sie nicht gerne gelesen.
Ja so ist das. So könnte es sein. Was folgt daraus?
- Hörförderung ist Sprachförderung ist Leseförderung. Aktives Zuhören ist ein Kulturgut. In Deutschland gibt es die “Stiftung zuhören“, u.a. werden KindergärtnerInnen ausgebildet, Kinder besser einmal klar und deutlich auf Augenhöhe anzusprechen, ohne das Gesprochene öfters zu wiederholen. Mehr dazu auch in diesen Podcasts:
Seid Ohr – Wer nicht zuhört, lernt nicht lesen, schreiben und rechnen – Silivia Plahl – SWR2 Wissen vom 1.8.2009
Das Geheimnis des Lesens – Wie wir lernen Texte zu entschlüsseln – Jochen Paulus – SWR2 Wissen vom 4.4.2009
Lesen mit Spiegelneuronen – Was ist Neurogermanistik – Gerhard Lauer – SWR2 Wissen vom 4.5.2008 - Über Beziehungen lernt das Kind: Aber das wissen wir ja schon lange.
- Erwachsenenbildung auf jeder möglichen Ebene, um die Bedeutung des Zuhörens in den Familie zu stärken. Die Regierung von Quebec/Kanada hat einmal eine Postkartenaktion durchgeführt, bei der gezielt Postkarten in mehreren Wellen an die Haushalte von Einwandererstadtteilen in Montreal mit gut gemachten Förderungsanreizen versendet wurden. “Hören Sie ihrem Kind zu, dann wird es später viel erzählen.”, “Loben Sie Ihr Kind, dann wird es Selbstvertrauen entwickeln”. Grundsätzliches ist nicht zu schlecht, erwähnt zu werden. Ein weiteres kanadisches Beispiel ist die Website http://www.investinkids.ca/ mit nicht banaler Grundbildung, zum Beispiel hier.
- Lernen, wo man etwas Lesen kann: das den Kindern beizubringen erscheint zumindest in höherem Alter oft wesentlicher als das wie.
- Besserer Einsatz von Schulbüchern: Besonders in den Naturwissenschaften kann im Wissenserwerb das Lesen nicht das Hören und Diskutieren ersetzen.
- Überhaupt: Bessere Schulbücher, sprich: bessere Texte in naturwissenschaftlichen Schulbüchern. Lektoren der Verlage sind oft entweder Germanisten ohne Ausbildung im naturwissenschaftllichen Bereich, oder Naturwissenschaftler ohne Ausbildung im sprachlichen Bereich. Aus Kostengründen. Ja. Aus Kostengründen.
- Naturwissenschaftliche Texte finden sich auch an vielen anderen Orten. Zum Beispiel dieser Text von Gottfried Schatz aus der Neuen Zürcher Zeitung. Dieser Text wurde für LeserInnen geschrieben, die die Zeitung weglegen könnten. Dementsprechend gut ist er. Schulbücher dürfen nicht weggelegt werden, aber dann darf man sich auch nicht über mangelnde Leselust beklagen.
- Angstfreie Mathematik: Lesen kann dabei durchaus eine Erleichterung sein. Da muss aber sonst alles stimmen. Mehr dazu in diesem Artikel des deutschen Gehirnforschers Manfred Spitzer.
- Die Förderung der Muttersprache bei zweisprachigen Kindern. Experte dafür ist der Wiener Sprachwissenschaftler Rudolf de Cillia, hier ein Artikel darüber.
- Die Rolle des Buchklubs der Jugend. Wettbewerbe. Förderungen. Tage des Lesens. Bücher im Fernsehen, zum Beispiel die legendäre Sendung “Fortsetzung folgt nicht” von Edgar Böhm im österreichischen Fernsehen der 80er Jahre. Hier ist die Zusammenarbeit von Kinderprogramm und Stifungen, die sich um das Lesen kümmern, besonders erstrebenswert.
- Zuhören. Wer es gewohnt ist, gehört zu werden, hört später zu und liest wenn niemand spricht.
Und wie so oft in der Erziehung gibt es den Matthäus-Effekt: Wer hat, dem wird gegeben. Besonders die schon gut lesenden Kinder profitieren von all diesen Maßnahmen.
Noch ein Satz ist irgendwo gestanden: Wer lesen kann, hat mehr Zeit nachzudenken.