ORF Radio Österreich 1 – Moment Leben heute, Randnotizen / 14.10.2019
Lothar Bodingbauer über die Verwendung von Büchern.

 

SIGNATION

 

Ich muss Ihnen jetzt etwas erzählen, aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie nicht lachen. Ja?

 

Es war vor einer Woche, ich kenne mich ganz gut aus in Mathematik, und eine ungefähr 17-jährige Schülerin hat mich gebeten, ihr beim Mathematiklernen zu helfen. So etwas macht man doch gerne, wenn man gut ist in Mathematik, und natürlich hat man ein bisschen den Wunsch, nicht nur die Antworten auf Fragen zu geben, sondern auch ein bisschen was von seiner Erfahrung weiterzugeben, wie man schwierige Dinge lernt, wie man sein Wissen vervollständigt, wenn etwas davon noch fehlt.

 

“Was sind denn statistische Kennzahlen”, fragte die Schülerin, zum Beispiel der Mittelwert, aber wer weiß, was es da noch alles gibt. “Schau doch mal im Mathematikbuch nach”, sagte ich. Das Mädchen nahm da Buch in die Hand, und wog es ein bisschen wie unschlüssig hin und her. Es öffnete das Buch und sah dabei ein wenig verloren aus. “Weißt du”, sagte ich, “da gibt es ganz hinten eine Liste mit wichtigen Wörtern, die im Buch vorkommen, der Index, da schauen wir jetzt einfach nach”. Und tatsächlich, unter “Statistische Kennzahlen”, und unter “Kennzahlen, Komma, statistische” standen beide Male die gleichen Seitennummern, nämlich 31. Das Gesicht des Mädchens erhellte sich. Es schlug die Seite auf und fand dort gleich auch die Überschrift: “Statistische Kennzahlen”.

 

Das hat der jungen Frau gefallen. Sie fand auf dieser Seite dann alles, den Modus, den Mittelwert, den Median und die Standardabweichung. All das, was sie im Unterricht bereits irgendwann gehört hat. Und dann, ich wollte die Chance nützen, sagte ich ihr, “es hilft oft, wenn man sich in diesem Kapitel ein wenig umschaut, was es sonst noch alles gibt. Blättere doch mal nach vor.“ Sie schaute ein wenig unschlüssig und wog das Buch in den Händen. Blätterte ein wenig herum. “Vorne ist links”, sagte ich, “das Buch ist nach aufsteigenden Seitenzahlen geordnet.” Und schon war sie vorne beim Anfang des Kapitels. Sie stellte fest, dass es neben “statistische Kennzahlen” auch noch ganz andere Überschriften gibt, und ich sagte ihr, das das Herumblättern ganz praktisch wäre, weil man dann einen Überblick bekäme, was es sonst noch alles gibt. Beim nächsten Mal würde man sich dann besser zurechtfinden.

 

Das Gesicht der Schülerin erhellte sich weiter. “Und schau, ganz vorne im Buch, da gibt es ein Inhaltsverzeichnis”, sagte ich. Sie schaute gleich nach und sah dort auf wenigen Zentimetern alle Überschriften untereinander, denen sie durch das Blättern im Buch begegnet war. Sie war hin und weg. *Das* hätte ihr noch niemand gezeigt. Das Konzept „Buch“ gefiel ihr. *Das* hätte ihr noch niemand gezeigt.

 

TRENNER

 

Jetzt kann man sagen, blöd gelaufen, ich hatte es mit jemandem zu tun, der gar keine Ahnung hat. Aber so einfach lässt sich die Sache nicht vom Tisch wischen, denn: “Computer – was ist die Fläche Österreichs?” Die Antwort kommt vom Smartphone, ganz ohne Buch.

 

OT “Österreich ist 83 879 Quadratkilometer groß”

 

Und, ist nicht Wikipedia ganz ohne Seitennummern geschrieben, mit Hyperlinks, und wenn man liest, schiebt man die Seite am Bildschirm mit dem Finger nach oben. Wikipedia, oder überhaupt, das Internet, kennt keine Seitennummern, warum soll man dann wissen wollen, wo vorne ist im Internet?

 

Der Tag mit dieser Schülerin hat mein Leben in zwei Hälften geteilt. Wie Christi Geburt unsere Zeitrechnung. In eine Zeit vorher, und eine Zeit nachher. Wir leben jetzt etwa im Jahr 5 “nach der Verwendung von Büchern”. Wir haben es jetzt offenbar mit Menschen zu tun, die Bücher nur mehr vom Hörensagen kennen. Sie werden von Lehrerinnen und Lehrern begleitet, die das – so wie ich – oder vermutlich auch Sie – noch nicht vollständig erfasst haben. Die vergessen, den Schülerinnen, den Schülern, die Funktionsweise eines Buches zu erklären, wenn sie es zum Beispiel als Schulbücher austeilen. Und das Rührende an der ganzen Geschichte ist, wie viel Wohlwollen das Mädchen dieser Idee eines Buches entgegengebracht hat. Das Mädchen war hin und weg vom Mathebuch, das ihr noch niemand erklärt hat. Und ich hoffe, Sie haben bei der ganzen Geschichte jetzt weder gelacht – noch geweint. Computer, erzähl einen Witz!

 

OT „Welches ist das älteste Musikinstrument? Das Akkordeon, es hat die meisten Falten“.