Königsberg auf dem Weg in den Westen: Zwischen Litauen und Polen liegt an der Ostsee die Exklave Kaliningrad, russisches Gebiet ohne direkten Kontakt zum Mutterland. Kaliningrad ist die westlichste Stadt Rußlands. Als östlichste Stadt Preußens war ihr Name Königsberg. Jene Besucher, die heute nach Kaliningrad kommen, um Königsberg zu finden, haben es schwer, die Stadt ihrer Kindheit wiederzuerkennen. Im August 1944 und im April 1945 wurde die Stadt von britischen Bombern fast völlig zerstört, den Rest besorgte die Politik der Sowjetisierung. Königsberg ist tot, es lebe Kaliningrad.
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„Und dann fand ich auch noch unseren Brunnen, das Loch, das war ganz schlimm für mich.“
TEXT:
Zwischen Litauen und Polen liegt an der Ostsee die Exklave Kaliningrad, russisches Gebiet ohne direkten Kontakt zum Mutterland. Jene Besucher, die nach Kaliningrad kommen, um Königsberg zu finden, haben es schwer, die Stadt ihrer Kindheit wiederzuerkennen. Neunzehnhundertvierundvierzig wurde das ostpreußische Königsberg von britischen Bombern fast völlig zerstört, den Rest besorgte die Politik der Sowjetisierung.
Königsberg ist tot – es lebe Kaliningrad.
„Ja das muß ich ganz ehrlich sagen, diese Ruinen, die übriggeblieben sind, sind viel schmerzlicher, als wenn Du etwas nicht findest.“
Kaliningrad ist heute die westlichste Stadt Rußlands. Zugänglich für westliche besucher wurde sie erst 1991. Als Freihandelszone Bernstein erhielt die Region Ende vorigen Jahres einen wirtschaftlichen Sonderstatus innerhalb der Russischen Föderation, und somit auch politisches Eigengewicht.
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Mehr über das Leben in Kaliningrad, mehr über die Geburtsstadt Immanuel Kants, hören Sie heute Abend um ca. 18.20 in Österreich 1 – in unserem Journal-Panorama
Manuskript
MODERATION:
Kaliningrad ist die westlichste Stadt Rußlands. Als östlichste Stadt Preußens war ihr Name Königsberg. Britische Bomber haben sie 1944 weitgehend zerstört, die Politik der Sowjetisierung entfernte die meisten Relikte der deutschen Geschichte, Menschen aus allen Teilen der Sowjetunion wurden angesiedelt.
Die Kaliningrader Region ist heute russisches Terretorium, besitzt aber keine Grenze mit Rußland. Die Enklave, etwa so groß wie die Steiermark, ist von der Ostsee, von Polen und Litauen umgeben. Das Gebiet ist zwar ein weißer Fleck auf unserer geistigen Landkarte – entfernungsmäßig ist Kaliningrad ebenso weit von Wien entfernt, wie etwa Genf.
Die Region erhielt Ende vorigen Jahres einen wirtschaftlichen Sonderstatus innerhalb Rußlands, und damit auch politisches Eigengewicht. Als strengstes Militärgebiet wurde Kaliningrad vor drei Jahren erst westlichen Besuchern zugänglich gemacht und zur Freihandelszone Bernstein erklärt. Lothar Bodingbauer hat sich in Kaliningrad umgesehen.
OT 1
Ja, Kaliningrad gefällt mir nicht, da bin ich ganz ehrlich, das ist nicht wiederzuerkennen, da fehlt einfach das Deutsche, aber da leben ja jetzt andere Leute drin, andere Sitten, ich wünsch´ den Kaliningradern nur, daß sie schnell vorankommen, daß es etwas besser wird. Die Leute, die hier geboren sind, sollen das als ihre Heimat betrachten. Sollen sie pflegen, und sollen sie lieben.
TEXT:
In Kaliningrad Königsberg zu suchen, das ist zwar möglich, aber zumindest für die Teilnehmer des “nostalgischen Tourismus”, oft mit Traurigkeit verbunden.
OT 2
Unser Haus steht nicht mehr, aber ich habe, da steht eine Kirchenruine, da bin ich meinen Schulweg nachgegangen, durch hohes Gestrüpp, und kurz stand ich da. Erinnerungen, das lag an einem Dorfteich, der ist jetzt vertocknet, dürr, da wächst Schilf. Das war für mich der Wegweiser. Eine kleine Anhöhe, das war früher unser Gemüsegarten, den fand ich auch noch. Und dann fand ich noch unseren Brunnen, das Loch, das war ganz schlimm für mich, und trotzdem bin ich in meinem tiefsten Herzen glücklich, daß ich diese Fahrt gemacht habe, die brauchte ich, um auch in Westfahlen zu wissen, daß da meine Heimat ist.
ATMO 1: Verkehr.
TEXT:
Königsberg, das ist Geschichte, wir sind hier in Kaliningrad. “Wellcome”, hat ein Sprayer enthusiastisch mit zwei “l” an einen Eisenbahnbrückenpfeiler gemalt, Reisende sollen freundlich empfangen werden. Kaliningrad ist – abgesehen von altsowjetischen Betonklötzen – eine grüne Stadt. Viele Straßen sind Wohnalleen, die Baumkronen schließen sich über den Fahrbahnen. Ratternde Straßenbahnen, Autos mit dichten blauen Rauchwolken hinten dran, und auch ein alter rotweißer Bus der Wiener Verkehrsbetriebe ist mittendrin im Verkehr. “afnerlos” steht noch drauf, das “sch” ist wohl irgendwann verschwunden. (ATMO 2: Preßlufthammer) Schlaglöcher machen den Straßenverkehr zur Slalomfahrt, oft so groß daß ein kleinerer Hund darin verschwinden könnte. Hier flickt gerade eine Frauengruppe die Löcher. Den Preßlufthammer bedient die stämmigste unter ihnen, der einzige Mann sitzt auf der Straßenwalze. Die Dolmetscherin der Gebietsverwaltung meint:
OT 3:
SPRECHERTEXT 1:
Es ist sonderbar, daß gerade in Rußland viele Frauen harte Arbeit bevorzugen. Ich weiß nicht warum, es ist sehr sonderbar. Es gibt die Weisheit, daß wenn der Mann im Haus mehr Geld als die Frau verdient, die Frau wenig arbeitet. Wenn nun eine Frau hart arbeitet, verdient sie mehr Geld und fühlt sich unabhängig, das ist eine Frage des Lebensstils. Es scheint für mich, daß bei Ihnen in Österreich das ähnlich ist.
TEXT:
Raisa Minakowa ist Leiterin des Pressezentrums, sie antwortet auf die Frage, ob es denn normal sei, daß Frauen hier im Straßenbau arbeiten: Es ist eine Schande!
Im übrigen haben sich auch die klassischen Bezeichnungen und Ideale geändert. Der Taxifahrer meint auf die Frage, ob er denn jetzt Kapitalist wäre, nein. Auch Kommunist wäre er nicht, er sei Arbeiter. Nur bei denen in der Gebietsverwaltung wäre es unerhört:
SPRECHERTEXT 2:
“Die sind jetzt Kapitalisten und Kommunisten zugleich.”
ATMO 3: Markthalle
TEXT:
In der vergangenen Saison wurde die Hälfte des Ackerlandes nicht besät, das Nahrungsmitteldefizit mußte durch teure Importe ausgeglichen werden. Seit kurzem gibt es in den Geschäften immer mehr westliche Waren zu kaufen. Nur: die sind teuer.
Hier am Markt findet man alles: Vom spärlichen Hausrat, den manch einer vollständig verkauft, weil er kein Geld mehr hat, bis zu den Lebensmitteln des täglichen Bedarfes. Wie auch eine Stange mit aufgereihten Plastiksackerln: Die sind mir bekannt: Hier werden die bunten Tragtaschen jener österreichischen Handelskette verkauft, die “Der Platz der Phantasie” sein soll. Die Librosackerl sind jetzt der große Renner in Kaliningrad – wie auch überall im Baltikum.
Am Markt ist die Grenze eng – zwischen schnellverdientem Geld und letztem Rubel. Das durchschnittliche Monatsverdienst liegt derzeit bei 100.000 Rubel, umgerechnet etwa 600 Schilling. Mitarbeiter bei Banken und Versicherungen verdienen das Doppelte. Angestellte in Wissenschaft, Kultur und Kunst erhalten die Hälfte des durchschnittlichen Monatsverdienst. So auch die Pensionisten.
Ein Kilo Brot kostet 500 Rubel, ein Passant erzählt mir, daß sich der Preis alle paar Tage um den zehnten Teil erhöhe. Das Einkommen hält diese Inflation nicht mit. Die Gewinner sind die neuen Businesmen.
OT 4:
Jetzt erscheinen die Leute, die Geld haben. Jetzt ist der Unterschied zwischen Armen und Reichen zu bemerken. Man konnte schon bemerken, er ist arm, er ist reich. Reiche Leute begannen Häuser zu bauen, Privathäuser, haben private Autos, arme Menschen haben manchmal kein Geld. Das sind Rentner, Studenten, ja. Alle Revolutionen sind für das Volk schwierig. Für uns auch, diese Reformen sind für das einfache Volk bestimmt sehr kompliziert. Es ist kompliziert, hier zu leben, aber wir hoffen, es wird besser, bestimmt. Ich meine, daß wir imstande sind, das selbst zu machen, denn das russische Volk ist ein Volk des Selbermachens, das selber alles machen kann.
TEXT:
Die Kalingrader Region wurde 1991 zur Freihandelszone “Bernstein” erklärt. Export- und Importzölle sind gefallen, Joint Ventures sollen ins Leben gerufen werden.
Die instabile politische Situation schrecke noch viele Investoren ab, meint Dmitrij Fimushkin, der Leiter des Entwicklungskomitees der Freihandelszone.
OT 5:
SPRECHERTEXT 3:
Die Situation hat sich erst seit Beginn dieses Jahres geändert, seit unser Präsident Boris Jelzin in einem Dekret unserem Gebiet Wirtschaftsvorteile eingeräumt hat. Die unsichere Gesetzgebung fordert, daß wir viele neue Gesetze für die Region ausarbeiten müssen, das dürfen wir nun eigenständig tun. Diese Gesetze wurden bereits von den meisten Ministerien in Moskau abgesegnet und werden noch im Juni der Duma zur Diskussion präsentiert. Unser Hauptanliegen ist jetzt, die erhaltenen Vorteile durch Gesetze zu fixieren. Es ist also notwendig, die Entscheidungsgewalten vom Föderationsniveau an die Region selbst zu übertragen, damit die Wirtschaft von hier geleitet wird, in der lokalen Regierung.
TEXT:
Heißt das, die Kaliningrader Region arbeitet von nun an in die eigene Tasche?
OT 6:
SPRECHERTEXT 4:
Ich spreche nicht über das Gesetz der Kaliningrader Region, ich spreche über die Gesetze der Russischen Föderation, über die Entwicklung der Region Kaliningrad. Das Terretorium ist russisch, wir sehen es nur als russisches Terretorium. Die Sache ist die: wir haben eine geographisch günstige Lage, die sollten wir zum Vorteil Rußlands und seiner Entwicklung nützen. Wir sind bereit, neue internationale Verbindungen zu knüpfen, weil wir einen Enklavencharakter haben und Europa sehr nahe sind. Auch die Kontakte zur Europäischen Union können nur in jener Hinsicht diskutiert weden, daß die Kaliningrader Region ein Teil Rußlands ist.
TEXT:
Das meint auch der russische Außenminister Andreij Kozyrew:
SPRECHERTEXT 5:
“Die Region Kaliningrad ist ein zentraler Punkt unserer strategischen, politischen und ökonomischen Interessen in der baltischen Region. Sie formt einen unveräußerbaren und unumstößlichen Bestandteil der russischen Föderation.”
Kaliningrad ist von seinen Nachbarn abhängig, 80% der Energieversorgung stammt aus Litauen. Transit und Transport mit dem Mutterland erfolgen zu hohen Kosten über Litauen und Weißrußland. Gerade aber die hohe Militärpräsenz in der Region sorgt für kühle Beziehungen mit den Nachbarstaaten. Rechnet man die Familienangehörigen des Militärpersonals ein, sind etwa die Hälfte der 400.000 Bewohner der Region Kaliningrad mit der Armee verbunden. Paradoxerweise hat sich die Zahl der Armeeangehörigen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erhöht. Viele der Truppen, die aus Ostdeutschland und dem östlichen Mitteleuropa abgezogen wurden, sind hier, zumindest zeitlich begrenzt, stationiert.
Für Aufregung sorgte heuer auch eine Meldung von Verteidigungminister Pawel Gratschow, der die Region zum “besonderen Militärbezirk” erklärte und ankündigte, daß Spezialeinheiten aus Soldaten aller Waffengattungen aufgebaut werden sollen. In Baltisk, zu deutsch Pillau, ist die Baltische Flotte stationiert, wie auch das Frühwarn- und Verteidigungssystem der Luftstreitkräfte.
Das Problem für die Region liegt nun darin, daß sie eben so stark auf militärische Belange ausgerichtet ist und bis auf den Fischfang die zivile Wirtschaft und Infrastruktur stark vernachlässigt wurde. Diese Wirtschaftszweige müssen nun erst aufgebaut werden. So auch mit Mitteln der Europäischen Union.
Deutschland jedenfalls hält sich mit direkter Hilfe zurück – die guten Beziehungen zu Moskau seien wichtiger als der Verdacht, das Gebiet zu regermanisieren.
Einer der wichtigsten Punkte in der Entwicklung der Region ist der Verkehr. Wieweit die eisfreien Häfen von militärischen Aufgaben auf die zivile Verwendung umgestellt werden sollen, das ist noch nicht klar. Durch ein Joint Venture mit der deutschen Firma Rossbahn wird die Autobahn Berlin-Königsberg gebaut, und Flugverbindungen mit Paris, Berlin und Kopenhagen wurden gerade erst erföffnet. Frankfurt soll folgen, aber zuvor muß der Flughafen auf internationales Niveau gebracht werden. Die Normalspur-Bahnverbindung mit Berlin ist schon fertig – der Königsberger Express bringt nun in regelmäßigen Abständen Touristen in die Region. Die tägliche Verbindung ins polnische Danzig ist auch eine beliebte Schmuggelstrecke.
ATMO 4 + ATMO 4A: Schmuggler/Eisenbahn.
TEXT:
Hier werden gerade 50 Stangen deutscher Zigaretten unter dem Dach der ersten Klasse verstaut. Sie sollen aus Kaliningrad wieder verbilligt nach Deutschland kommen. Einer der Helfer ist gerade von der Toilette aus in die Zwischendecke geklettert, sein Kollege reicht ihm durch die geöffnete Schalterverblendung des Abteils die Ware. Der Schaffner steht Schmiere. Als ein Grenzbeamter durchgeht, schiebt der Schmuggler die Tasche mit den noch nicht versteckten Zigaretten, ungerührt zwischen die Beine der im 1.Klasse-Coupé reisenden deutschen Studenten. An der Grenze dann müssen alle aussteigen, und wenig später kommen dann die Grenzbeamten mit Armen voller Zigaretten, Wodkaflaschen und anderen Schmuggelwaren aus dem Zug. die sie aus allen möglichen Verstecken hervorgezogen haben. Das Dachbodenversteck haben sie nicht entdeckt. ––
Ob die Umstellung von der Planwirtschaft zur freien Marktwirtschaft für die Bevölkerung Kaliningrads schwierig ist?
OT 7:
SPRECHERTEXT 6:
Ich beziehe mich auf statistische Untersuchungen: Die meisten Menschen sehen es emotionslos, aber optimistisch. Sie sehen es als eine Realität, die man nicht vermeiden kann. Sie müssen sich an die Änderungen einfach anpassen. Junge und Leute mittleren Alters sehen diese Situation als normal an, die Alten jedoch und die Pensionisten haben ein sehr geringes Einkommen, für sie ist besonders schwierig.
TEXT:
Die Freihandelszone ist für Rußland ein Testplatz. Hier sollen Neuerungen ausprobiert werden, die im Erfolgsfalle auf einer größeren Skala in ganz Rußland angewendet werden. Geographisch und größenmäßig jedenfalls wären die Bedingungen für eine stärkere europäische Integration ideal. Die Spannung bleibt jedoch, zwischen einer wirtschaftlich-politischen Brückenposition einerseits, und Kaliningrads Rolle als militärischer Vorposten Rußlands gegen eine vermeintlich feindliche Umgebung andererseits.
Zusätzlich bewegt sich das Gebiet im Spannungsfeld zwischen den Vorstellungen einer offenen Freihandelszone und den Vorstellungen der Nationalpatrioten. Die LDPR, die ultranationale liberaldemokratische Partei Wladimir Schirinowskis erreichte bei den Wahlen der Gebietsverwaltung im Dezember 1993 die Mehrheit. Bei einem Besuch in der Enklave vor drei Wochen übte Schirinowski scharfe Kritik am Status des Gebietes. Es solle den anderen Gebieten Rußlands gleichgestellt sein und keine ausländischen Unternehmen auf seinem Boden dulden. Unter der segnenden Hand Lenins hielt Schirinowski seine Rede an die Bevölkerung. Sonst treffen sich unter dieser Statue die Bürger, um die Probleme der Zeit zu diskutieren, ein russischer Hyde-Park.
Nach soviel Kalingrad aber, begeben wir uns doch auf die Suche nach der alten Stadt, suchen wir also jetzt Königsberg.
ATMO 5: Verkehr
TEXT:
Wir befinden uns hier auf dem zentralen Platz, an dem früher die alte Pruzzenfestung stand. Die Burg der Ordensritter wurde nach der Landnahme vor 740 Jahren errichtet. Bei Bombenangriffen im August 1944 und im April 1945 war sie beinahe völlig zerstört worden, und in den Jahren danach wurde die Ruine völlig weggeräumt, als ein “fauler Zahn deutscher Geschichte”, wie Leonid Breshnew angeblich bei einem Stadtrundgang erkannte.
Jetzt ist der Platz eine riesige Betonwüste. In seiner Mitte, am Ort wo das Schloß stand, das unvollendete, zwanzigstöckige Rätehaus der Sowjets. Hier ist das Leben nicht. Mit tunnelartigen, vermauerten Fortsätzen an allen vier Seiten, und zerbrochenen Fensterscheiben kragt diese riesige verwirrende Ruine kafkaesk in den Himmel und bestimmt das deprimierende Bild des Platzes. Rundherum in weiter Entfernung sind auch heute noch die riesigen, roten Buchstaben mit sozialistischen Parolen auf den Dächern der Wohn-Hochhäuser zu sehen.
ATMO 6: Musik
TEXT:
Lebendig hingegen sind die Gebiete um die Teiche. Die Dominsel ist bei schönem Wetter die Donauinsel Kaliningrads. Dort stehen Plastiken russischer Künstler und selbst bei Nieselregen treffen sich unter den vielen jungen Bäumen viele Pärchen für Stunden der Nähe.
Der Dom soll jetzt wiederaufgebaut werden. Heute stehen nur noch die Außenmauern, von den zwei Türmen fehlt das meiste, und das Dach ist ebenfalls nicht vorhanden. Bis zur völligen Renovierung wird es noch Jahre dauern. Einstweilen sind im Kirchenraum Open-Air Konzerte geplant.
Die Stadtverwaltung beginnt, sich der deutschen Gebäude wiederzuerinnern. Im offiziellen Fremdenverkehrsprospekt sind es dann auch meist ostpreußische Gebäude, die dem Besucher als Kulturgüter gezeigt werden. Viele preußische Denkmäler werden wiedererrichtet – von ihnen war bisher nur eines akzeptiert – das von Immanuel Kant. Wenn er auch ein deutscher Philosoph war, er wurde von den sowjetischen Ideologen als Quelle und Vorläufer des Marxismus gesehen. Kant hat seine Heimatstadt nie verlassen, der Philosoph wußte auch, warum:
SPRECHERTEXT 7:
“Eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis, als auch der Weltkenntnisse genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann”.
Der Historiker Nikolai Karamsin besuchte Kant einmal in Königsberg und schrieb danach:
SPRECHERTEXT 8:
“Er bewohnt ein kleines, unansehliches Haus. Überhaupt ist alles bei ihm alltäglich, ausgenommen seine Metaphysik.”
Auf deutsche Initiative wurde vor zwei Jahren eine Plastik des Philosophen wieder an seiner Gedenkstätte aufgestellt.
Tiergarten, der Botanische Garten und all die Gärten um die Teiche werden jetzt revitalisiert. Es gibt auch schon einen offiziellen Stadtplan, auf dem alle Straßen- und Ortsnamen in ihrer deutschen Version verzeichnet sind.
ATMO 6: Meer
TEXT:
An der Samlandküste wird bei Palmnicken Bernstein im Tagbau gefördert. Die markante Steilküste steigt an manchen Stellen bis zu 60 Meter hinauf. An der Wertschätzung dieser Region hat sich bis heute nichts geändert. Nach Swetlogorsk oder Selenogradsk zu fahren -so werden Rauschen und Cranz heute genannt- ist auch für die Russen eine Angelegenheit von Prestige und Genuß. Aber auch für andere Besucher sind nun diese Orte wieder geöffnet. Auf der schmalen Kuhrischen Nehrung kann man im Dünensand das litauische Niden erreichen. Nur Baltisk – oder Pillau – ist auch heute noch als Marinestützpunkt strenges Sperrgebiet, aber auch hier gehen die Grenzbäume jetzt einmal im Jahr hoch, um ehemaligen Bewohnern ermöglichen, ihre Heimat zu sehen.
Lew Kopelew schrieb einmal, Kaliningrad sei eine Stadt ohne Überlieferung und ohne Seele. Diese Stadt hat jedoch eine Geschichte, die überall mit Händen zu greifen ist – nur keine sowjetische. Auf den Briefschlitzen der alten Häuser ist auch heute noch meist “Briefe und Zeitungen” eingraviert.
Der nostalgische Tourismus wird wohl früher oder später sein biologisches Ende nehmen, bis dahin sollten die Tourismusinfrastrukturen auch für andere Besucher aufgebaut sein.
OT 8:
Mein Name ist Soja. Ich bin Lehrerin von Beruf. Ich lebe in Kalingrad. Ich bin an der Wolga geboren, im Jahre 1941. Es gibt hier 6000 Rußlanddeutsche, sie leben in verschiedenen Städten unseres Gebietes, am meisten im Labyer-Bezirk, in der Siedlung Gilge, russisch Matrosowa.
TEXT:
Vor allem aus Mittelasien sind die Rußlanddeutschen hergezogen, gleich nach dem Krieg und wieder verstärkt in den letzten Jahren. Sie machten im Februar von sich reden, als sie in einem Appell an die vereinten Nationen die Errichtung einer “Deutschen Baltischen Republik” forderten. Dieser Wunsch wurde nicht erfüllt. Im deutsch-russischen Kulturhaus finden Begegnungen statt, zwischen Deutschen, Russlanddeutschen und Russen aus anderen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Und manchmal wird dabei auch ein Angehöriger der rechten Szene als Beobachter entdeckt. Die Beziehungen des offiziellen Deutschlands mit dem Gebiet Königsberg sind aber sehr vorsichtig, denn die Förderung der russlanddeutschen Neusiedler in Kaliningrad durch die Deutschen, ist naturgemäß heikel.
Ein Versuch, den Brückenschlag mit Deutschland zu ermöglichen, ist der “Königsberger Express”, die deutschsprachige Zeitung der Stadt. Sie erscheint monatlich in einer Auflage von 10.000 Expemplaren. Der Leserkreis besteht aus Abonnenten in Deutschland und Kaliningrad, Touristen, sowie aus russischen und deutschen Firmen, deren Reklameveröffentlichungen die Zeitung hauptsächlich finanzieren. Elene Lebedewa ist die Chefredakteurin, vor einem Jahr hat sie gemeinsam mt ihrem Mann die Zeitung aufgebaut:
OT 9:
SPRECHERTEXT 9:
In unserer Zeitung arbeiten Russen, keine mit russlanddeutscher Wurzel, sie machen einfach eine deutsche Zeitung. Unsere momentane Hauptanstrengung bestehen darin, wie es heißt, in der Bundesliga zu bleiben, überhaupt erst einmal weiterzuexistieren. Natürlich ist es schwierig, aufgrund von Werbeeinahmen zu existieren, aber andererseits können wir auch nicht sagen, daß man uns von offizieller Seite Schwierigkeiten in den Weg legt. Die Informationen nehmen wir aus der hiesigen Presse, vor allem aus der Kaliningrader Prawda. Aber wir machen auch exklusive Themen, die von der Presse sonst nicht beleuchtet werden. Kulturelles, Geschichte, das bringen wir auch heraus. Wir würden aber auch gerne schöpferische Sachen einbringen, aber dafür ist noch nicht die Zeit.
ATMO 9: Jingle Radio Bas
TEXT:
Das ist Radio Bas, das erste und einzige Kaliningrader Privatradio. Internationale Musik rund um die Uhr, und die amerikanische Hitparade, das ist das Erfolgsrezept.
OT 10:
SPRECHERTEXT 10:
Ich liebe Radio Bas. Warum? Die bringen einfach gute Musik! –
TEXT:
Wir besuchen Radio Bas in seinem Sendezentrum: eine Zweizimmer-Wohnung im 16. Stock eines Hochhauses in den Ausläufern der Stadt. Fünf Angestellte arbeiten hier.
ATMO 10: Feier
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In dem einen Zimmer feiert die Mannschaft gerade den Abschluß eines Werbevertrages – der Produzent hat eine Stange Wurst, Brot und Sekt mitgenommen. Valeri Petrowski begibt sich zwischenzeitlich in den Nebenraum, drei Zeitungen unter dem Arm, er wird daraus die Nachrichten lesen, als ehemaliger Schauspieler im Tifliser Stadttheater ist er der richtige Mann dafür. Ein Problem nur für die 11-Uhr Nachrichten ist der Bagger vor dem Haus, der mit Preßluft Stahlplatten in den Boden rammt. Das geht dann eben mit auf Sendung.
ATMO 11: Nachrichten.
TEXT:
Der Radiosender erhält sich selbst aus Werbeeinnahmen. Wo immer man als Besucher in Kaliningrad hinkommt: spielt ein Radio – der Sender ist meist Radio Bas. Dabei hat der Programmdirektor mit seinem Kollegen vom staatlichen Radio Jantar gute Beziehungen. Die beiden sitzen gemeinsam bei Kaffee und Kuchen und probieren den neuesten Kopfhörer aus, einer mit Radioempfang, mit dem sie auch gleichzeitg telefonieren können.
ATMO 12: Jingle Radio Bas.
TEXT:
Was bleibt – ist die Frage nach der Zukunft. Wird die wirtschaftliche Öffnung auch ein politisches Miteinander der baltischen – und damit europäischen Länder mit sich führen, oder wird der militärische Schrecken der Region ihre Umgebung unterkühlen. Kaliningrads Bewohner jedoch sind Besuchern gegenüber ausgesprochen gastfreundlich, wenn auch im Alltag die meisten Mundwinkel tendenziell nach unten zeigen, aber das kennen wir ja auch aus Österreich. Spricht man mit jemanden darüber, erhält man meist die lakonische Antwort: “Ihr habt leicht lachen”.
Für Dmitrij Fimushkin, dem Leiter des Entwicklungskomitees der Freihandelszone steht jedenfalls eines fest:
OT 11:
SPRECHERTEXT 11:
Ich sehe die Zukunft der Region Kaliningrad als eine sehr glückliche Zukunft russischen Terretoriums. Vielleicht wird dieses Terretorium ein bißchen vor dem russischen Hauptland sich zum Guten entwickelt haben, ich sehe jedenfalls die kommende Zeit als eine glückliche Zeit russischen Terretoriums.
TEXT:
Ob Dmitrij Fimushkin recht behält? (ATMO 13: Musik) Die Zukunft wird es zeigen. Es bleibt zu hoffen, daß die Schwierigkeiten dieser sensiblen Region leichter zu lösen sind, als das berühmte Königsberger Brückenproblem. Dieses stellt nämlich die Frage, ob es möglich ist, bei einem Spaziergang durch das alte Königsberg jede der sieben Pregel-Brücken nur einmal zu überschreiten. Und dessen Antwort lautet: nein.