Wenn ein Kind in ein neues Land kommt, ist es am besten, wenn es gleich in die neue Sprachumgebung eintaucht, um die neue Sprache zu erlernen. Diese wohlbekannte Vorstellung wird in den letzten Jahren verstärkt ergänzt durch den Zusatz, dass Kinder ihre Muttersprachen weiter pflegen und entwickeln sollen.

Sprachwissenschafter betonen die Bedeutung der Muttersprache nicht nur für den Spracherwerb, sondern auch für den Wissenserwerb und die Entwicklung der gesamten Persönlichkeit. Es ist nämlich nicht so, dass die unterschiedlichen Sprachen in „einzelne Fächer“ im Gehirn eingeordnet werden. Sprache ist vielmehr gehirntechnisch ein umfassendes Gesamtkonzept. Wer als Kind seine Muttersprache aufgibt, würde die neu zu lernende Sprache gleichsam auf dem Nichts aufbauen. Das Ergebnis wäre eine halbfertige Muttersprache, und eine schlecht erlernte Zweitsprache. Und zwei halbe Sprachen ergeben leider keine ganze.

Kindergärten und Schulen steigen nun vermehrt auf die Muttersprachenförderung um und unterstützen dadurch parallel zum Erlernen der deutschen Sprache als Bildungssprache die kontinuierliche Weiterentwicklung der Muttersprachen der Kinder. In Schule mit großem Anteil an Migrationskindern wird mit diesem Konzept die Vielsprachigkeit der Kinder nicht als Mangel erlebt, sondern als Chance und Bereicherung. Alle können von den vielen Sprachen im Klassenzimmer profitieren, wenn die Lehrenden gemeinsam mit den Kindern das Thema gleichsam zur Chefsache erklären.

Während Kinder aus Migrationsfamilien eine neue Sprache meist vorbehaltslos erlernen, haben ihre Eltern und Großeltern weit größere Probleme. Migration ist immer mit einer prekären Sicherheitssituation verbunden. Wer emigriert tut das normalerweise nicht freiwillig, sondern aus zwingenden Gründen. Im neuen Land muss nun erst abgeschätzt werden, ob das Ziel der Emigration erreichbar ist: eine sichere Existenz. Viele fürchten sich davor, zu früh ihre frühere Sprache aufzugeben, um die Sprache des Ziellandes zu erlernen. Erst wenn diese Eingangsphasen überwunden sind, und das neue Leben auf sicheren Beinen steht, sind die erwachsenen Migranten bereit, sich auch der neuen Sprache zu nähern. Meist ist das mit einer folgenden unsicheren Phase der Sprachlosigkeit verbunden, wenn man etwas sagen möchte, es aber noch nicht kann. Auch hier wäre die Betonung der wichtigen Rolle der Muttersprache notwendig, sagen Sprachwissenschafter, denn die fehlende Sprache und der damit verbundene Eindruck der Dummheit kann in einen negativen Teufelskreis des Selbstbewusstseins münden, wo zusätzlich die meisten Migranten im neuen Land eine Qualifikationsdegradierung erleben. Es gibt niemanden, so heißt es, der nicht durch die Küche geht.

Sprachkurse müssen einerseits in der richtigen Phase den Zielgruppen angeboten werden, andererseits sollten sie auch immer mit konkreten Inhalten verbunden werden, denn nie erlernt man eine Sprache nur der Sprache willen.

Schwierig ist auch der Umstieg auf die neue Sprache in den Familien selbst. Oft glauben die Eltern, den Kindern etwas Gutes zu tun, wenn sie auch im Familienverband den Sprachwechsel früh herbeiführen. Die neue Sprache ist dabei meist noch nicht in ihrer ganzen Vielfältigkeit und Komplexität entwickelt und verankert. Emotionen aber leben von den Nuancen auch in der Sprache, die mit dem Fehlen derselben verloren gehen würden.

Insgesamt erlebt also die Betrachtung der Sprache in der Migration derzeit einen Wandel. Sprache darf nicht weiter ein Selektionsinstrument sein, sie ist als Integrationsindikator denkbar ungeeignet. Zu sehr ist die Sprache der Menschen mit ihrer Existenz verbunden, und damit mit den blanken Menschenrechten. „Recht auf Sprache statt Deutsch als Pflicht“, so lautet die Forderung auch politisch denkenden Sprachwissenschafter. Sie sehen Deutsch nicht als Konkurrenz zur Muttersprache der Menschen, Vielsprachigkeit ist eine Bereicherung der Gesellschaft.

Manuskript (ohne letzte Änderungen): Sprachlosigkeit in der Migration

2.2.2010, Lothar Bodingbauer

Moderationsvorschlag

Gia-Uy Pan ist ein Volksschulkind. Er hat ein kleines Bilderbuch gezeichnet und geschrieben, es hat den Titel: Der Bootsausflug. In der Nähe von Wien gibt es nämlich eine Höhle, in Hinterbrühl. „Die Menschen wollen mit dem Boot zur Höhle fahren“, schreibt er. Man sieht: Jeder hat seinen eigenen Platz am Boot. „Sie fahren in die Höhle hinein. Der Fahrer hält das Boot an. Die Menschen schauen sich die Felsen an. Dann fahren sie zurück zum Ausgang. Jetzt ist ihre Fahrt zu Ende.“

Ein kleiner Ausflug – jedoch mit großem Hintergrund. Gia-Uy‘s Vater kommt aus dem Vietnam, sein Vater war Bootsflüchtling. 

Der Vater hat das Erlebte auf Vietnamesisch erzählt, sein Kind verarbeitete die Flucht auf Deutsch.

Es geht um die Sprachen in dieser Sendung, um die Muttersprache, und wie sie sich bei Migration verändern kann. Nicht nur bei Kindern bewirkt ein Sprachenbruch dramatische Auswirkungen nicht nur auf die Sprachentwicklung, sondern oft auch auf die gesamte Persönlichkeit. Gia-Uy hatte Glück, er besuchte eine Volksschule, die die Herkunftssprachen der Migrantenkinder gleichwertig neben Deutsch als Unterrichtssprache stellt, und das half ihm, die schrecklichen Erfahrungen der Flucht seines Vaters auch mit Hilfe seiner neuen Sprache zu bewältigen.

Anders als beim Tausch von Wohnungen und Kleidern kann eine neue Sprache nämlich nicht einfach die Rolle der bisherigen übernehmen. Sprachwissenschafter wissen um die Bedeutung einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der Muttersprache. Nicht nur um in der neuen Sprache besser kommunizieren zu können, sondern auch um den Wissenserwerb insgesamt auf sichere sprachliche Beine zu stellen.

BEITRAG 14:20

Abmoderationsvorschlag

Spracherwerb in der Migration. Gesprochen haben vielen anderen die Germanistin und Expertin für Deutsch als Zweitsprache Verena Plutzar, der Sprachwissenschafter Rudolf de Cillia (Tschillia), und die Volksschullehrer Christian Schreger und Andreas Bauer, beide aus der Volksschule Ortnergasse in Wien 15. Gestaltung: Lothar Bodingbauer, Redaktion: Marie Clair Messinger.